HELDEN
Komödie in drei Akten
George Bernard Shaw
"Arms and the Man", der Titel der Komödie, sind die ersten Worte der
englischen Übersetzung der Äneis. Im Deutschen wäre die Übertragung
von "Arma virumque cano": "Waffentaten besingt mein Gesang und den
Mann..." zu langatmig geworden, weshalb ich das der Entthronung
unechter Helden geltende Werk "Helden" nannte.
Anmerkung des Übersetzers.
PERSONEN
Paul Petkoff, bulgarischer Major.
Katharina, seine Frau.
Raina, ihre Tochter.
Sergius Saranoff, bulgarischer Major.
Bluntschli, Hauptmann in der serbischen Armes.
Louka, Stubenmädchen.
Nicola, ein Diener.
Ein russischer Offizier.
Ein bulgarischer Offizier.
Ort der Handlung: Eine kleine Stadt in Bulgarien in der Nähe des
Dragomanpasses.
Zeit: Das Jahr 1885.
ERSTER AKT
[Nacht. Das Schlafzimmer eines jungen Mädchens in Bulgarien, in
einer kleinen Stadt nahe dem Dragomanpaß. Ende November 1885. Durch
ein großes offenes Fenster mit kleinem Balkon schimmert sternhell die
schneebedeckte Spitze eines Balkanberges wundervoll weiß und schön
herein. Das Gebirge scheint ganz nahe, obwohl es in Wirklichkeit
meilenweit entfernt ist. Die innere Einrichtung des Zimmers hat
keinerlei Ähnlichkeit mit der im östlichen Europa üblichen. Sie ist
halb reich bulgarisch, halb billig wienerisch. Über dem Kopfende des
Bettes, das gegen eine schmale Wand gelehnt ist, die die Ecke des
Zimmers in der Richtung der Diagonale abschneidet, steht ein blau und
goldbemalter hölzerner Schrein mit einem Christusbilde aus Elfenbein.
Darüber schwebt in einer von drei Ketten gehaltenen durchbrochenen
Metallkugel eine Lampe. Die Hauptsitzgelegenheit, eine türkische
Ottomane, befindet sich an der entgegengesetzten Seite des Zimmers,
dem Fenster gegenüber. Die Bettvorbänge und die Bettdecke, die
Fenstervorhänge, der kleine Teppich und alle Stoffe des Zimmers sind
prächtig und orientalisch. Die Tapeten an den Wänden sind
abendländisch und armselig. Der Waschtisch an der Wand in der Nähe
des Fensters und der Ottomane besteht aus einem emaillierten eisernen
Becken und einem Eimer darunter, beides in einem bemalten
Eisenständer. Ein einziges Handtuch hängt über dem Handtuchhalter an
der Seite. Daneben steht ein Wiener Stuhl aus gebogenem Holz mit
Rohrsitz. Der Ankleidetisch, zwischen dem Bett und dem Fenster ist
aus gewöhnlichem Tannenholz, mit einer bunt farbigen Decke belegt,
darauf ein kostbarer Toilettespiegel. Die Tür ist in der Nähe des
Bettes, zwischen Tür und Bett steht noch eine Kommode. Diese Kommode
ist auch mit einem bunten bulgarischen Tuch überdeckt, und auf ihr
befindet sich ein Stoß ungebundener Romane, eine Bonbonniere mit
Pralinen und eine Miniaturstaffelei mit der großen Photographie eines
äußerst hübschen Offiziers, dessen stolze Haltung und magnetischer
Blick sogar aus dem Bilde erkennbar ist.--Das Zimmer wird von einer
auf der Kommode brennenden Kerze und von einer andern, die sich auf
dem Toilettentisch befindet, erhellt. Neben letzterer liegt eine
Zündholzschachtel. Das Fenster hat Längsflügel, die weit offen
stehen; ein paar hölzerne Läden, die sich nach außen öffnen, sind
gleichfalls weit auf. Auf dem Balkon eine junge Dame, in den Anblick
der Schneeberge versunken. Sie ist sich der romantischen Schönheit
der Nacht, wie auch der Tatsache, daß ihre eigene Jugend und
Schönheit ein Teil davon ist, sehr wohl bewußt. [Sie ist in einen
langen Pelzmantel gehüllt, der, gering geschätzt, dreimal so viel
wert ist als die ganze Einrichtung des Zimmers. Aus ihrer Träumerei
wird sie durch ihre Mutter, Katharina Petkoff, aufgeschreckt, eine
stattliche Frau über vierzig, von gebieterischer Energie, mit
wunderbaren schwarzen Augen und Haaren. Als Frau eines Gutsbesitzers
im Gebirge würde sie prachtvoll wirken; sie will aber durchaus die
Wiener Dame spielen und trägt zu diesem Zwecke bei jeder Gelegenheit
ein hochmodernes Tea-gown.]
Katharina [tritt hastig ein, erfüllt von guten Nachrichten]: Raina!
[Sie spricht Rahina mit Betonung des i.] Raina! [Sie geht an das
Bett in der Erwartung, Raina dort zu finden.] Wo steckst du denn?
[Raina wendet sich nach dem Zimmer um.] Um Gottes willen, Kind, warum
da draußen in der Nachtluft statt im Bett! Du wirst dir den Tod
holen. Louka sagte mir doch, daß du schliefest.
Raina [eintretend]: Ich habe sie fortgeschickt, weil ich allein sein
wollte--die Sterne sind so wundervoll. Was ist denn los?
Katharina: Große Neuigkeiten--eine Schlacht ist geschlagen worden!
Raina [mit weiten Augen]: Ah! [Sie wirft ihren Pelz auf die Ottomane
und kommt in bloßem Nachtkleid, einem hübschen Kleidungsstück, doch
sichtlich dem einzigen, das sie anhat, heftig auf Katharina zu.]
Katharina: Eine große Schlacht, bei Slivnitza, ein Sieg! und Sergius
hat ihn erfochten.
Raina [mit einem Freudenschrei]: Ah--[Entzückt:] O Mutter! [Dann
plötzlich ängstlich:] Ist der Vater gesund und unversehrt?
Katharina: Selbstverständlich, von ihm kommt ja die Nachricht.
Sergius ist der Held des Tages, der Abgott seines Regiments.
Raina: Erzähle, erzähle! wie ist das zugegangen? [Ekstatisch:] O
Mutter, Mutter, Mutter! [Sie drückt ihre Mutter auf die Ottomane
nieder. Sie küssen einander leidenschaftlich.]
Katharina [mit ungestümem Enthusiasmus]: Du kannst dir nicht
vorstellen, wie herrlich es ist. Eine Kavallerieattacke, denke dir
nur! Er hat unseren russischen Befehlshabern Trotz geboten, er
handelte ohne Kommando. Auf eigene Faust führte er einen Angriff aus,
er selbst an der Spitze. Er war der erste Mann, der die feindliche
Artillerie durchbrach! Stell es dir nur einmal vor, Raina, wie
unsere kühnen glänzenden Bulgaren mit blitzenden Schwertern und
blitzenden Augen einer Lawine gleich herniederdonnerten und die
elenden Serben mit ihren geckenhaften österreichischen Offizieren
wegfegten wie Spreu. Und du, du ließest Sergius ein Jahr lang warten,
bis du ihm dein Jawort gabst. Oh, wenn du einen Tropfen
bulgarischen Blutes in den Adern hast, wirst du ihn jetzt anbeten,
wenn er zurückkommt.
Raina: Was wird ihm an meiner armseligen Anbetung liegen, nachdem ihm
eine Armee von Helden zugejubelt hat! Doch einerlei. Ich bin so
glücklich, so stolz! [Sie steht auf und geht heftig bewegt auf und
ab.] Es beweist mir, daß alle unsere Ideen doch Wahrheit waren.
Katharina [indigniert]: Unsere Ideen Wahrheit? Was meinst du damit?
Raina: Unsere Vorstellungen von dem, was ein Mann wie Sergius einmal
vollbringen würde--unsere Vorstellungen von Patriotismus, von
Heldentum. Ich zweifelte manchmal, ob sie etwas anderes als Träume
wären. Oh, was für ungläubige kleine Geschöpfe wir Mädchen sind!
Als ich Sergius den Säbel umgürtete, sah er so edel aus. Es war
Verrat von mir, da an Enttäuschungen, Demütigung oder Mißerfolg zu
denken, und doch--und doch...[Rasch:] Versprich mir, daß du es ihm
niemals sagen wirst.
Katharina: Verlange kein Versprechen von mir, bevor ich weiß, was ich
eigentlich versprechen soll.
Raina: Nun, als er mich in seinen Armen hielt und mir in die Augen
blickte, da fiel es mir ein, daß wir vielleicht unsere Vorstellungen
von Heldengröße bloß deshalb haben, weil wir gar so gerne Byron und
Puschkin lesen und weil wir in diesem Jahre von der Oper in Bukarest
so entzückt waren. Das wirkliche Leben gleicht so selten diesen
Bildern--ja niemals, soweit ich es bis dahin kannte...[reuevoll:]
Denk dir nur, Mutter, ich zweifelte an ihm. Ich fragte mich, ob
nicht am Ende alle seine Soldateneigenschaften und sein Heldentum
sich als Einbildung erweisen würden, sobald er sich in einer
wirklichen Schlacht befände. Ich hatte eine unangenehme Angst, daß
er am Ende gar eine klägliche Figur inmitten all der klugen
russischen Offiziere abgeben würde.
Katharina: Schämst du dich nicht--eine klägliche Figur? Die Serben
haben österreichische Offiziere, die genau so klug sind wie unsere
russischen, und wir haben sie trotzdem in jeder Schlacht geschlagen.
Raina [lacht und setzt sich wieder]: Jawohl! ich war bloß ein
poesieloser kleiner Feigling. Nein, zu denken, daß dies alles wahr
ist--daß Sergius genau so edel und kühn ist, wie er aussieht--, daß
die Welt tatsächlich eine herrliche Welt für Frauen ist, die ihre
Größe sehen können, und für Männer, die fähig sind, ihre Romantik
darzustellen! Was für ein Glück, was für unaussprechliche
Erfüllungen--ach! [Sie wirft sich neben ihrer Mutter auf die Knie
und umschlingt sie leidenschaftlich mit den Armen.]
[Sie werden durch den Eintritt Loukas unterbrochen, eines hübschen
stolzen Mädchens in der hübschen bulgarischen Bauerntracbt mit
Klappschürze. Sie benimmt sich so keck, daß ihr dienstliches
Verhalten gegen Raina beinahe unverschämt aussieht; vor Katharina
fürchtet sie sich, aber selbst mit ihr geht sie so weit, wie sie's
nur immer wagen zu dürfen glaubt. Sie ist jetzt ebenso aufgeregt wie
die anderen, aber sie sympathisiert nicht mit Rainas Begeisterung und
blickt verachtungsvoll auf die Verzückung der beiden, bevor sie sie
anredet.]
Louka: Entschuldigen Sie, gnädige Frau, alle Fenster müssen
geschlossen und alle Läden verriegelt werden. Man sagt, daß
vielleicht in den Straßen geschossen werden wird. [Raina und
Katharina erheben sich gleichzeitig erschrocken.] Die Serben werden
durch den Paß zurückgejagt, und es heißt, sie könnten sich in die
Stadt flüchten. Unsere Kavallerie wird ihnen nachsetzen, und Sie
können sicher sein, daß unser Volk sie gebührend empfangen wird;
jetzt, wo sie davonlaufen. [Sie geht auf den Balkon hinaus, schließt
die Außenläden und tritt dann in das Zimmer zurück.]
Raina: Ich wollte, unsere Leute wären nicht so grausam. Was ist das
für ein Ruhm, arme Flüchtlinge niederzumachen?
Katharina [geschäftig, sich ihrer häuslichen Pflichten erinnernd]:
Ich muß zusehen, daß unten alles in Sicherheit gebracht wird.
Raina [zu Louka]: Laß die Läden so, daß ich sie schnell schließen
kann, sobald ich irgendwelchen Lärm höre.
Katharina [strenge, während sie ihren Weg nach der Tür fortsetzt]: O
nein, mein Kind, die Läden müssen verriegelt bleiben; du würdest
sicher darüber einschlafen und sie offen lassen. Riegele sie ganz zu,
Louka.
Louka: Jawohl, gnädige Frau. [Sie schließt sie.]
Raina: Sei ohne Sorge meinetwegen, sobald ich einen Schuß höre, werde
ich die Kerzen auslöschen, mich in mein Bett verkriechen und die
Decke über die Ohren ziehen.
Katharina: Das klügste, was du tun kannst, liebes Kind. Gute Nacht.
Raina: Gute Nacht, Mama. [Sie küssen einander, und Rainas
Ergriffenheit kehrt für einen Augenblick zurück.] Beglückwünsche mich
zu der schönsten Nacht meines Lebens--wenn nur die Flüchtlinge nicht
wären.
Katharina: Geh zu Bett, Liebling, und denk nicht daran. [Geht ab.]
Louka [heimlich zu Raina]: Wenn Sie die Läden offen haben wollen,
stoßen Sie nur ein wenig--so! [Sie stößt ein wenig gegen die Läden,
die Läden gehen auf, dann schließt sie sie wieder.] Der eine müßte
unten verriegelt werden, aber der Riegel ist abgebrochen.
Raina [würdevoll, mißbilligend]: Danke, Louka, aber wir müssen tun,
was uns befohlen wird. [Louka schneidet ein Gesicht.] Gute Nacht!
Louka [nachlässig]: Gute Nacht. [Sie stolziert ab.]
Raina [allein gelassen, gebt nach der Kommode und betet das darauf
befindliche Bild mit Empfindungen an, die über jeden Ausdruck sind.
Sie küßt es weder, noch preßt sie es ans Herz, noch gibt sie ihm
irgendein Zeichen von körperlicher Zärtlichkeit, aber sie nimmt es in
die Hände und hebt es empor, wie eine Priesterin.--Das Bild
betrachtend]: Oh, ich werde mich nie mehr deiner unwert zeigen. Held
meiner Seele--nie, nie, nie! [Sie setzt das Bild ehrfürchtig zurück,
dann wählt sie einen Roman aus dem kleinen Bücherstoß. Verträumt
blättert sie darin, findet, wo sie stehen geblieben ist, biegt das
Buch an dieser Stelle nach außen zusammen, und mit einem glücklichen
Seufzer sinkt sie auf das Bett, um sich in den Schlaf zu lesen.
Bevor sie sich jedoch ihrem Roman überläßt, blickt sie noch einmal
auf, gedenkt der seligen Wirklichkeit und murmelt]: Mein Held! mein
Held! [Ein entfernter Schuß durchbricht draußen die Stille der Nacht.
Sie fährt horchend auf,--da fallen noch zwei Schüsse aus viel
größerer Nähe. Sie erschrickt, stürzt aus dem Bett und bläst die
Kerze auf der Kommode rasch aus. Dann läuft sie, mit den Händen an
den Ohren, zum Toilettetisch, bläst die Kerze auch dort aus und eilt
im Dunkeln in ihr Bett zurück, man unterscheidet nichts mehr in der
Stube als einen Lichtschimmer aus der durchbrochenen Metallkugel vor
dem Christusbilde und das Sternenlicht, das durch die Spalten der
Fensterläden glänzt. Abermals fallen Schüsse, ein fürchterliches
Gewehrfeuer ist ganz nahe. Während man noch das Echo der Salve hört,
werden die Fensterläden von außen aufgestoßen, für einen Augenblick
flutet in einem Rechteck das schneeige Sternenlicht plötzlich herein,
von dem sich die dunkle Silhouette einer männlichen Gestalt abhebt.
Dann schließen sich die Läden wieder, und das Zimmer liegt abermals
im Dunkeln. Aber jetzt wird das Schweigen durch ein keuchendes
Atemholen unterbrochen, dann hört man ein Kratzen, und die Flamme
eines Streichholzes wird in der Mitte des Zimmers sichtbar.]
Raina [aufs Bett gekauert]: Wer ist da? [Das Streichholz verlischt
sofort wieder.] Wer ist da--wer ist da?
[Eines Mannes Stimme gedämpft aber drohend]: Scht! Schreien Sie
nicht, sonst schieße ich! Bleiben Sie ruhig, und es wird Ihnen
nichts geschehen. [Man hört, wie sie ihr Bett verläßt und nach der
Tür tastet.] Nehmen Sie sich in acht, es hilft Ihnen nichts, wenn Sie
davonlaufen wollen. Merken Sie sich, sobald Sie Ihre Stimme erheben,
wird mein Revolver losgehen. [Befehlend:] Machen Sie Licht und
lassen Sie sich sehen! Hören Sie! [Noch ein Augenblick der Stille
und Dunkelheit, während Raina an den Toilettetisch zurücktritt. Dann
zündet sie die Kerze an, und das Rätsel löst sich.--Ein Mann von
ungefähr fünfunddreißig Jahren, in bejammernswürdigem Zustande, mit
Kot, Blut und Schnee bespritzt, steht vor ihr. Sein Degengehänge und
der Riemen seiner Revolvertasche halten die Fetzen des blauen
Waffenrocks eines serbischen Artillerieoffiziers zusammen. Alles was
man beim Kerzenlichte aus dem ungewaschenen, verwahrlosten Aussehen
des Mannes halbwegs erkennen kann, ist, daß er mittelgroß, von nicht
sehr vornehmem Aussehen, breitschultrig und starkknochig ist. Sein
rundlicher, eigensinnig aussehender Kopf ist mit kurzen braunen
Locken bedeckt. Er hat klare, bewegliche, blaue Augen, gutmütige
Brauen und einen freundlichen Mund, eine hoffnungslos prosaische Nase
wie die eines besonders aufgeweckten Babys, aufrechte soldatische
Haltung und eine energische Art; er besitzt volle Geistesgegenwart
trotz seiner verzweifelten Lage, die er sogar mit einem Anflug von
Humor betrachtet, ohne jedoch im geringsten damit spielen zu wollen
oder eine Rettungsmöglichkeit außer Acht zu lasten.--Er überlegt, was
er von Raina zu erwarten haben mag, schätzt ihr Alter, ihre
gesellschaftliche Stellung ab, ihren Charakter, den Grad ihrer Furcht,
alles mit einem Blick, und fährt höflicher, aber immer äußerst
entschlossen fort]: Entschuldigen Sie, daß ich Sie störe, aber Sie
erkennen wahrscheinlich meine Uniform, ich bin Serbe! Wenn ich
gefangen werde, wird man mich töten. [Drohend]: Begreifen Sie das?
Raina: Ja.
Der Flüchtling: Nun, ich habe keine Lust zu sterben, solange ich es
verhindern kann. [Noch fürchterlicher]: Begreifen Sie das? [Er
verschließt die Tür mit einem kurzen Schnappen des Schlosses.]
Raina [verachtungsvoll]: Es scheint, Sie haben keine. [Sie richtet
sich stolz auf und blickt ihm gerade ins Gesicht, während sie mit
scharfer Betonung spricht]: Es gibt Soldaten, die den Tod fürchten,
das weiß ich.
Der Flüchtling [mit Galgenhumor]: Alle fürchten ihn, verehrte Dame,
alle, glauben Sie mir. Es ist unsere Pflicht, so lange zu leben, wie
wir nur können, und wenn Sie Lärm schlagen-Raina [ihn unterbrechend]:
Dann werden Sie mich erschießen! Aber woher wissen Sie, daß ich den
Tod fürchte?
Der Flüchtling [schlau]: Und wenn ich Sie nicht erschieße, was wird
dann geschehen? Eine Rotte Ihrer Kavallerie--das elendeste Gesindel
Ihrer Armee--wird in dieses Ihr hübsches Zimmer einbrechen und mich
wie ein Schwein abschlachten. Denn ich werde mich wehren und fechten
wie ein Teufel. Sie sollen mich nicht auf die Straße bekommen und
sich an mir belustigen; ich weiß, wozu sie imstande sind. Sind Sie
bereit, in Ihrer augenblicklichen Verfassung, in dieser Toilette,
eine solche Gesellschaft zu empfangen?
[Raina besinnt sich in dem Moment auf ihr Nachtgewand, schreckt
instinktiv zusammen und zieht es enger um den Leib. Er beobachtet
sie und fügt ohne Erbarmen hinzu]: Kaum präsentabel, was? [Sie geht
nach der Ottomane, er richtet augenblicklich seine Pistole auf sie
und ruft]: Halt! [Sie bleibt stehen.] Wohin wollen Sie? Raina [mit
würdevoller Geduld]: Ich will nur meinen Mantel holen. Der
Flüchtling [geht rasch nach der Ottomane und reißt den Pelz an sich]:
Ein guter Gedanke. Nein, den Mantel behalte ich; dann werden Sie
dafür sorgen, daß niemand hier eindringt und Sie so sieht. Das ist
eine bessere Waffe als mein Revolver. [Er wirft den Revolver auf die
Ottomane.]
Raina [empört]: Es ist nicht die Waffe eines Gentleman!
Der Flüchtling: Gut genug für einen Mann, wenn zwischen ihm und dem
Tod nur Sie stehen. [Während sie einander nun einen Augenblick stumm
betrachten, in welchem Raina kaum zu glauben vermag, daß selbst ein
serbischer Offizier so zynisch und selbstsüchtig und unritterlich
sein könne, werden sie durch ein scharfes Gewehrfeuer in der Straße
aufgeschreckt. Furchtbare Todesangst läßt den Flüchtling seine
Stimme dämpfen, als er hinzufügt]: Hören Sie? Wenn Sie diese
Halunken schon hereinlassen und auf mich hetzen wollen, so werden Sie
sie wenigstens empfangen, so wie Sie da sind. [Raina begegnet seinen
Blicken mit unerschrockener Verachtung. Plötzlich fährt er horchend
auf; man hört Schritte von außen, jemand drückt auf die Klinke und
klopft dann hastig und dringend. Raina sieht den Flüchtling atemlos
an, er wirft entschlossen den Kopf zurück, mit der Bewegung eines
Menschen, der nun weiß, daß er verloren ist, und indem er sein
Benehmen, das Raina einschüchtern sollte, aufgibt, wirft er ihr den
Mantel zu und ruft aufrichtig und artig]: Es ist umsonst, ich bin
verloren! Schnell, hüllen Sie sich in den Mantel, sie kommen!
Raina [fängt den Mantel hastig auf]: Oh--ich danke! [Sie wirft den
Mantel sehr erleichtert um, er zieht seinen Degen und wendet sich
nach der Tür und wartet.]
Louka [von außen klopfend]: Gnädiges Fräulein! gnädiges Fräulein!
Stehen Sie schnell auf und öffnen Sie die Tür!
Raina [ängstlich]: Was wollen Sie tun?
Der Flüchtling [grimmig]: Das ist jetzt einerlei, gehen Sie nur aus
dem Weg, es wird nicht lange dauern.
Raina [impulsiv]: Ich will Ihnen helfen! Verstecken Sie sich, oh,
verstecken Sie sich, schnell hinter diesen Vorhang. [Sie faßt ihn
bei einem zerrissenen Zipfel seines Ärmels und zieht ihn nach dem
Fenster.]
Der Flüchtling [ihr nachgehend]: Es ist noch ein Funken Hoffnung
vorhanden, wenn Sie Ihre Geistesgegenwart bewahren. Merken Sie sich:
von zehn Soldaten sind neun geborene Dummköpfe. [Er versteckt sich
hinter dem Vorhang, sieht aber noch einmal heraus und sagt:] Wenn sie
mich dennoch finden, so verspreche ich Ihnen einen Teufelskampf. [Er
verschwindet. Raina nimmt den Mantel ab und wirft ihn an das Fußende
des Bettes, dann öffnet sie mit schläfrigem, verstörtem Wesen die Tür.
Louka tritt aufgeregt ein.]
Louka. Ein Mann wurde gesehen, wie er die Dachrinne zu Ihrem Balkon
hinaufgeklettert ist, ein Serbe. Die Soldaten wollen ihm nachsetzen
und sind so wild und betrunken und wütend. Die Gnädige läßt sagen,
Sie möchten sich sofort ankleiden.
Raina [scheinbar ärgerlich, daß sie gestört wird]: Hier lasse ich sie
nicht suchen. Warum hat man sie eingelassen?!
Katharina [hastig hereinstürzend]: Raina, mein Liebling, dir ist doch
nichts passiert? Hast du irgend etwas gesehen oder gehört?
Raina: Ich hörte nur schießen; aber ich hoffe, die Soldaten werden es
nicht wagen, hier in mein Schlafzimmer einzudringen!
Katharina: An ihrer Spitze ist ein russischer Offizier--dem Himmel
sei Dank. Er kennt Sergius. [Spricht durch die Tür zu jemand, der
draußen steht:] Bitte treten Sie ein, Herr Leutnant; meine Tochter
ist bereit, Sie zu empfangen. [Ein junger russischer Offizier in
bulgarischer Uniform tritt ein, den Säbel in der Faust.]
Russischer Offizier [mit sanfter geschmeidiger Höflichkeit und
steifer militärischer Haltung]: Guten Abend, gnädiges Fräulein. Ich
bedaure, hier eindringen zu müssen, aber ein Flüchtling ist auf Ihrem
Balkon versteckt. Wollen Sie und Ihre gnädige Frau Mutter so gut
sein und sich zurückziehen, während wir ihn suchen?
Raina [ungeduldig]: Unsinn! Sie sehen von hier aus, daß niemand auf
dem Balkon sein kann. [Sie stößt die Läden weit auf, steht mit dem
Rücken gegen den Vorhang, hinter dem der Flüchtling versteckt ist und
zeigt auf den vom Mond beschienenen Balkon. Zwei Schüsse fallen
direkt unter dem Fenster, und eine Kugel zertrümmert das Fensterglas
gegenüber von Raina, sie schließt einen Moment die Augen und atmet
schwer, aber hält sich tapfer, während Katharina aufschreit und der
Offizier mit dem Ausruf "Geben Sie Acht" auf den Balkon hinausstürzt.]
Russischer Offizier [auf dem Balkon, schreit wütend in die Straße
hinunter]: Hört auf, hier herein zu schießen, ihr Dummköpfe,
verstanden! Hört auf zu feuern, verfluchte Kerle! [Er starrt einen
Augenblick hinunter, dann wendet er sich zu Raina und versucht, seine
höfliche Stellung von vorhin wieder einzunehmen.] Konnte jemand ohne
Ihr Wissen hier eindringen? Schliefen Sie?
Raina: Nein, ich war noch nicht zu Bett.
Russischer Offizier [tritt ungeduldig in das Zimmer zurück]: Ihre
Nachbarn haben die Köpfe so voll mit davongelaufenen Serben, daß sie
überall welche sehen. [Höflich]: Gnädiges Fräulein, ich bitte
tausendmal um Verzeihung. Gute Nacht. [Verneigt sich militärisch.
Raina erwidert den Gruß kalt, er verneigt sich vor Katharina, die ihn
hinausbegleitet. Raina schließt die Läden. Sie wendet sich um und
bemerkt Louka, die diese Szene neugierig beobachtet hat.]
Raina: Lassen Sie meine Mutter nicht allein, Louka, während die
Soldaten da sind. [Louka blickt auf Raina, auf die Ottomane, auf den
Vorhang, dann spitzt sie die Lippen diskret, lacht in sich hinein und
geht hinaus. Raina, durch dieses Mienenspiel sehr beleidigt, folgt
ihr bis an die Tür und schlägt sie hinter ihr zu, sie geräuschvoll
verriegelnd. Der Flüchtling tritt sofort hinter dem Vorhang hervor,
steckt seinen Säbel ein und schüttelt in gleichsam geschäftlicher
Weise die Gefahr von sich ab.]
Der Flüchtling: Um ein Haar,,, doch um ein Haar ist auch gefehlt.
Verehrtes Fräulein, Ihr Sklave bis in den Tod! Ich wünschte jetzt
Ihretwegen, ich wäre in die bulgarische Armee statt in die serbische
eingetreten. Ich bin kein Serbe von Geburt.
Raina [hochmütig]: Nein, Sie sind einer von jenen Österreichern, die
die Serben zum Raub unserer nationalen Freiheit verleiten und die
serbische Armee mit Offizieren versehen. Wir hassen sie.
Der Flüchtling: Österreicher? O nein! Ich bin keiner. Hassen Sie
mich also nicht. Ich bin Schweizer, gnädiges Fräulein, und kämpfe
bloß als Berufssoldat; ich ging zu den Serben, weil sie auf dem Wege
aus der Schweiz mir zunächst waren. Seien Sie großmütig. Ihre
Landsleute haben uns ohnedies aufs Haupt geschlagen.
Raina: War ich vielleicht nicht großmütig?
Der Flüchtling: Edel, heldenhaft! Doch ich bin noch nicht gerettet.
Der schlimmste Ansturm ist bald vorüber, aber die Verfolgung wird mit
Unterbrechungen die ganze Nacht hindurch fortgesetzt werden; ich muß
trachten, mich in einem günstigen Augenblick aus dem Staube zu machen.
Sie sind doch nicht böse, wenn ich hier noch ein bis zwei Minuten
warte?
Raina: O nein, ich bedaure nur, daß Sie sich abermals in Gefahr
begeben müssen. [Auf die Ottomane weisend:] Bitte, setzen Sie sich!
[Sie hält mit einem nicht zu unterdrückenden Angstschrei inne, als
sie die Pistole auf der Ottomane erblickt.]
Der Flüchtling [übernervös, fährt zurück wie ein scheuendes Pferd.
Erregt]: Mich so zu erschrecken! Was ist denn los?
Raina: Ihre Pistole. Der Offizier hat sie die ganze Zeit vor Augen
gehabt! Ihre Rettung ist ein Wunder!
Der Flüchtling [ärgerlich, so unnötigerweise geängstigt worden zu
sein]: Ach, weiter nichts?!
Raina [blickt ihn hochmütig an und fühlt sich desto wohler, je mehr
ihre gute Meinung von ihm abnimmt]: Ich bedaure, Sie geängstigt zu
haben. [Sie nimmt die Pistole und reicht sie ihm]: Bitte, nehmen Sie,
zum Schutze gegen mich.
Der Flüchtling [lächelt müde über diesen Sarkasmus, während er die
Pistole nimmt]: Sie nützt mir nichts, sie ist nicht geladen. [Er
grinst die Pistole höhnisch an und schiebt sie verachtungsvoll in
seine Revolvertasche.]
Raina: So laden Sie sie meinetwegen!
Der Flüchtling: Ich habe keine Munition. Was nützen einem in der
Schlacht Patronen? Ich führe statt dessen immer Schokolade mit und
habe schon vor Stunden mein letztes Stück verzehrt.
Raina [in ihren heiligsten Vorstellungen von Männlichkeit verletzt]:
Schokolade? Sie stopfen Ihre Taschen mit Süßigkeiten voll wie ein
Schuljunge, selbst auf dem Schlachtfeld?
Der Flüchtling [hungrig]: Ich wollte, ich hätte jetzt welche. [Raina
starrt ihn an, unfähig ihre Gefühle zu äußern; dann läuft sie zu der
Kommode und eilt, die Bonbonniere in den Händen, mit spöttischer
Miene zurück.]
Raina: Erlauben Sie. Ich bedaure, alles aufgegessen zu haben bis auf
diese Pralinébonbons. [Sie bietet ihm die Schachtel an.]
Der Flüchtling [heißhungrig]: Sie sind ein Engel. [Er verschlingt
die Süßigkeiten]: Pralinés--köstlich! [Er überzeugt sich ängstlich,
ob noch mehr davon da sind; es waren die letzten.]
[Er fügt sich mit pathetischem Humor in das Unvermeidliche und sagt
mit dankbarer Rührung]: Gott segne Sie, teuerstes Fräulein.--Sie
können einen alten Soldaten immer an dem Inhalt seiner Sattel- und
Patronentaschen beurteilen. Die jungen führen Pistolen und Patronen
mit, die alten--Futter. Ich danke Ihnen. [Er gibt ihr die Schachtel
zurück, sie reißt sie ihm verachtungsvoll aus der Hand und wirft sie
fort. Er schrickt wieder zusammen, als wenn sie ihn hätte schlagen
wollen.] Hu! Ich beschwöre Sie, machen Sie nicht alles so heftig und
plötzlich, gnädiges Fräulein; es ist nicht schön, sich jetzt dafür zu
rächen, daß ich Sie vorhin erschreckt habe.
Raina [stolz]: Mich erschreckt! Wissen Sie, daß mein Herz, obwohl
ich nur ein Mädchen bin, mindestens ebenso mutig schlägt wie das
Ihre!?
Der Flüchtling: Das will ich meinen. Sie haben auch nicht drei
Tage lang im Feuer gestanden wie ich. Zwei Tage kann ich das
aushalten, ohne daß es mir viel ausmacht, aber kein Mensch hält es
drei Tage lang aus. Ich bin jetzt so nervös wie eine Maus. [Er
setzt sich auf die Ottomane und stützt den Kopf in die Hand.] Möchten
Sie mich weinen sehen?
Raina [bestürzt]: Nein!
Der Flüchtling: Wenn Sie das wollen, brauchen Sie mich nur
auszuschelten als ob ich ein kleiner Bub wäre und Sie das
Kindermädchen. Wenn ich jetzt im Lager wäre, würde man allerhand
Spaß mit mir treiben.
Raina [ein wenig gerührt]: Sie tun mir leid, ich werde Sie nicht
ausschelten. [Von dem Mitgefühl in ihrer Stimme ergriffen, hebt er
den Kopf und blickt dankbar zu ihr auf. Sie wendet sich sofort von
ihm weg und sagt steif:] Sie müssen mich entschuldigen, UNSERE
Soldaten sind eben ganz anders. [Sie geht von der Ottomane fort.]
Der Flüchtling: O nein, ganz ebenso! Es gibt überhaupt nur zweierlei
Arten Soldaten; junge und alte. Ich diene seit vierzehn Jahren; die
Hälfte von Ihren Leuten hatte bisher noch kein Pulver gerochen!
Nun, wie kommt es, daß sie uns eben geschlagen haben? Nur infolge
gänzlicher Unkenntnis der Kriegskunst, durch nichts weiter.
[Verachtungsvoll:] Ich habe nie einen größeren Mangel an
Berufskenntnis gesehen!
Raina [ironisch]: Oh, war es Mangel an Berufskenntnis, Sie zu
schlagen?
Der Flüchtling: So hören Sie! Halten Sie es für militärisch, ein
Kavallerieregiment einer Schnellfeuerbatterie entgegenzuwerfen mit
der Gewißheit, daß, falls die Kanonen losgehen, weder Pferd noch Mann
jemals der Batterie auf fünfzig Meter nahe kommen? Ich traute meinen
Augen kaum, als ich den Blödsinn sah.
Raina [wendet sich freudig zu ihm, erregt, weil ihr Enthusiasmus und
ihre Ruhmesträume sie wieder überkommen]: Haben Sie die große
Kavallerieattacke gesehen? Oh, erzählen Sie mir davon, beschreiben
Sie sie mir.
Der Flüchtling: Sie haben noch niemals eine Kavallerieattacke gesehen,
nicht wahr?
Raina: Wie sollte ich!
Der Flüchtling: Natürlich, woher auch! Na, es ist ein spaßhafter
Anblick. Gerade, als ob man eine Handvoll Erbsen gegen eine
Fensterscheibe schleuderte. Erst kommt einer, dann zwei oder drei
dicht hinterher, und dann in einer Reihe die ganze Rotte.
Raina [mit weiten Augen, erbebt sich, während sie die Hände
begeistert zusammenschlägt]: Ja, zuerst ein einziger, der Tapferste
der Tapferen!
Der Flüchtling [prosaisch]: Na, Sie sollten sehen, wie der arme
Teufel versucht sein Pferd zurückzuhalten.
Raina: Warum sollte er sein Pferd zurückhalten?
Der Flüchtling [ungeduldig über die dumme Frage]: Na, weil es doch
mit ihm durchgeht, natürlich. Glauben Sie, daß der Bursche Lust hat,
als Erster anzukommen, um so vor allen andern getötet zu werden?
Dann kommen die übrigen heran. Alle. Sie können die Jungen an ihrer
Wildheit und Schneidigkeit erkennen, die Alten kommen in
geschlossenen Haufen daher, sie wissen, daß sie nur Kanonenfutter
sind und daß es keinen Zweck hat, einen Kampf zu versuchen. Die
meisten Wunden sind gebrochene Kniescheiben infolge des
Zusammenprallens der Pferde.
Raina: Schrecklich! Aber ich glaube nicht, daß der erste Reiter ein
Feigling ist--ich glaube, er ist ein Held.
Der Flüchtling [gutmütig]: Das würden Sie auch gesagt haben, wenn Sie
HEUTE den ersten Reiter bei der Attacke gesehen hätten!!
Raina [atemlos, ihm alles verzeihend]: Ah, ich wußte es! Erzählen
Sie, erzählen Sie mir von ihm!
Der Flüchtling: Er benahm sich wie ein Operettentenor--ein
wohlgebauter, hübscher Bursche mit sprühenden Augen und prachtvollem
Schnurrbart, der sein Hurra brüllte und angriff wie Don Quijote die
Windmühlen. Wir haben uns über ihn halbtot gelacht! Als aber der
Feldwebel gelaufen kam, bleich wie der Tod, und uns sagte, daß wir
aus Versehen die falschen Patronen bekommen hätten und daß wir für
die nächsten zehn Minuten keinen Schuß abgeben könnten, da ist uns
das Lachen vergangen! Mir war nie so schlecht in meinem ganzen Leben,
obwohl ich schon in mancher bösen Lage gewesen bin. Ich hatte nicht
einmal eine Revolverpatrone, nichts als Schokolade, nicht einmal
Bajonette hatten wir--nichts. Natürlich haben sie uns in Stücke
gehauen, und da kam dieser Don Quijote wie ein Tambourmajor
herangestürmt und glaubte, das Klügste von der Welt getan zu haben,
statt dessen verdiente er, dafür vor das Kriegsgericht gestellt zu
werden. Von allen Narren, die jemals auf einem Schlachtfelde
losgelassen worden sind, muß das der schlimmste sein! Er und sein
Regiment begingen einfach einen Selbstmord, nur ging die Pistole
nicht los, das war alles.
Raina [aufs tiefste verletzt, doch standhaft ihren Idealen treu]:
Wahrhaftig! Würden Sie ihn wiedererkennen, wenn Sie ihn sähen?
Der Flüchtling: Werde ich ihn je vergessen können! [Sie geht wieder
zur Kommode, er beobachtet sie mit schüchternen Hoffnungen, daß sie
vielleicht noch etwas für ihn zu essen habe. Sie nimmt das Bild von
der Kommode und bringt es ihm.]
Raina: Das ist die Photographie jenes Reiters--des Patrioten und
Helden, dem ich verlobt bin.
Der Flüchtling [das Bild mit Entsetzen erkennend]: Es tut mir
wirklich sehr leid,,, [Sieht sie an.] War das recht, mich so aufs
Glatteis zu führen? [Blickt wieder auf das Bild.] Ja, das ist er
ohne Zweifel. [Er unterdrückt ein Lachen.]
Raina [rasch]: Warum lachen Sie?
Der Flüchtling [beschämt, aber immer noch sehr belustigt]: Ich
versichere Ihnen--ich habe nicht gelacht--, zumindest hatte ich nicht
die Absicht. Aber wenn ich an ihn denke, wie er die Windmühlen
stürmte und dabei glaubte, die schönste Tat von der Welt zu
vollbringen! [Er schüttelt sich vor unterdrücktem Lachen.]
Raina [strenge]: Geben Sie mir das Bild zurück!
Der Flüchtling [mit aufrichtiger Reue]: Hier, bitte. Verzeihen Sie!
Es tut mir wirklich furchtbar leid. [Sie küßt das Bild bedachtsam
und sieht dem Flüchtling gerade ins Gesicht, bevor sie es auf die
Kommode zurückstellt. Er folgt ihr, sich entschuldigend]: Wissen Sie,
ich tu' ihm vielleicht sehr unrecht, sogar ganz gewiß. Höchstwahrscheinlich
hat er von der Munitionsgeschichte irgendwo Wind bekommen und wußte,
daß es eine gefahrlose Sache war.
Raina: Das soll heißen, daß er ein Aufschneider und ein Feigling ist.
Vorhin haben Sie das wenigstens nicht zu sagen gewagt.
Der Flüchtling [mit einer komiscben Verzweiflungsgeste]: Ich bemühe
mich umsonst, verehrtes Fräulein, es gelingt mir nicht, Ihnen die
Sache vom berufsmäßigen Standpunkt aus zu zeigen. [Als er sich
umwendet, um zur Ottomane zu geben, wird neuerdings aus der Ferne
Gewehrfeuer vernehmbar]:
Raina [strenge, als sie bemerkt, wie er auf die Schüsse horcht]:
Desto besser für Sie.
Der Flüchtling [sich umwendend]: Wie meinen Sie das?
Raina: Sie sind mein Feind und in meiner Gewalt--was würde ich zu tun
haben vom berufsmäßigen Standpunkt aus?
Der Flüchtling: Ah, das ist wahr! Verehrtes Fräulein, Sie haben
immer recht. Ich weiß, was Sie für mich getan haben und was ich
Ihnen verdanke. Bis zu meiner letzten Stunde werde ich der drei
Pralinés gedenken. Es war unmilitärisch, aber wie engelsgut von
Ihnen!
Raina [kalt]: Ich danke Ihnen, aber nun will ich mich militärisch
benehmen. Sie können nicht hierbleiben, nach dem, was Sie über
meinen zukünftigen Gatten gesagt haben, aber ich will auf den Balkon
gehen und nachsehen, ob Sie jetzt vollkommen gefahrlos auf die Straße
hinunterklettern können. [Sie geht an das Fenster.]
Der Flüchtling [seine Miene verändert sich]: Diese Wasserrinne
hinunter? Halten Sie ein, das kann ich nicht, das mag ich nicht!
--der bloße Gedanke daran macht mich schon schwindlig. Ich kam
leicht genug herauf mit dem Tode auf den Fersen, aber das jetzt
kalten Blutes riskieren...! [Er sinkt auf die Ottomane.] Es ist
umsonst, ich bin besiegt, ich gebe den Kampf auf, ich bin
verloren--Sie können jetzt Lärm schlagen! [Er stützt den Kopf
todestraurig in die Hände.]
Raina [von Mitleid entwaffnet]: Gehen Sie, verlieren Sie nicht den
Mut. [Sie beugt sich beinahe mütterlich über ihn, er schüttelt den
Kopf.] Oh, Sie sind ein recht kläglicher Krieger, ein Pralinésoldat.
Gehen Sie, fassen Sie sich. Es gehört weniger Mut dazu, da
hinunterzuklettern als der Gefangenschaft ins Auge zu sehen--bedenken
Sie das.
Der Flüchtling [schläfrig, von ihrer Stimme eingewiegt]: Nein,
Gefangenschaft bedeutet nur Tod, und Tod ist Schlaf.--Oh schlafen,
schlafen, schlafen, ungestört schlafen...Die Dachrinne hinabklettern
heißt, etwas unternehmen, sich anstrengen, denken! Zehnmal lieber
den Tod!
Raina [leise und verwundert, in seinen schläfrigen Ton verfallend]:
Sind Sie so schläfrig?
Der Flüchtling: Ich habe keine zwei Stunden ungestört geschlafen,
seit ich zur Truppe eingerückt bin. Ich war im Generalstab. Sie
wissen nicht, was das heißt: ich habe seit achtundvierzig Stunden
kein Auge geschlossen.
Raina [am Ende ihrer Weisheit]: Aber was soll ich mit Ihnen anfangen?
Der Flüchtling [fährt taumelnd auf, von ihrer Verzweiflung
aufgestachelt]: Natürlich, ich muß etwas tun. [Er schüttelt sich,
rafft sich zusammen und spricht mit wiedergewonnener Kraft und Mut:]
Sehen Sie, schläfrig oder nicht schläfrig, hungrig oder nicht hungrig,
müde oder nicht müde--man kann eine Sache immer tun, wenn man weiß,
daß sie getan werden muß. Gut denn, die Dachrinne muß hinabgeklettert
werden. [Er schlägt sich mit der Faust an die Brust]: Hörst du das,
du Pralinésoldat?! [Er geht an das Fenster.]
Raina [ängstlich]: Aber wenn Sie stürzen?
Der Flüchtling: Dann werde ich schlafen, als ob das Pflaster ein
Federbett wäre. Leben Sie wohl. [Er tritt kühn an das Fenster und
legt seine Hand an den Laden, da ertönt unten auf der Straße wieder
eine entsetzliche Salve.]
Raina [zu ihm eilend]: Bleiben Sie! [Sie erfaßt ihn ohne Bedenken
und reißt ihn zurück.] Man wird Sie töten.
Der Flüchtling [kühl, aber aufmerksam]: Das macht nichts und gehört
eben zu meinem täglichen Beruf; ich muß es riskieren. [Entschlossen]:
Nun tun Sie, was ich Ihnen sage: löschen Sie die Kerzen aus, damit
man das Licht nicht sehen kann, wenn ich die Läden öffne, und halten
Sie sich ja vom Fenster fern, was immer auch geschehen mag. Wenn die
mich sehen, werden sie sicher nach mir schießen.
Raina [sich an ihn hängend]: Sie werden Sie ganz sicher sehen, der
Mond scheint hell. Ich will Sie retten,,, Oh, wie können Sie nur so
gleichgültig sein! Sie wollen doch, daß ich Sie retten soll, nicht
wahr?
Der Flüchtling: Ich möchte Sie wirklich nicht länger stören. [Sie
schüttelt ihn in ihrer Ungeduld]: Ich bin durchaus nicht gleichgültig
gegen den Tod, verehrtes Fräulein, glauben Sie mir, aber was soll ich
sonst anfangen?
Raina: Vor allem kommen Sie doch vom Fenster fort, ich bitte Sie.
[Sie schmeichelt ihn in die Mitte des Zimmers zurück, er ergibt sich
unterwürfig darein; sie läßt ihn frei und spricht gönnerhaft zu ihm]:
Hören Sie, Sie müssen unserer Gastfreundschaft vertrauen; Sie wissen
noch nicht, in wessen Haus Sie sich befinden--ich bin eine Petkoff.
Der Flüchtling [naiv]: Was ist das?
Raina [etwas entrüstet]: Ich meine, daß ich der Familie Petkoff
angehöre, der reichsten und angesehensten unseres Landes.
Der Flüchtling: O ja, natürlich! Entschuldigen Sie--die Petkoffs!
freilich! Wie dumm von mir!
Raina: Sie wissen ganz gut, daß Sie bis zu dieser Minute den Namen
nie gehört haben! Wie können Sie sich dazu erniedrigen, so zu tun,
als ob er Ihnen bekannt vorkäme?
Der Flüchtling: Verzeihen Sie, ich bin zu müde, um zu denken, und der
Wechsel des Gesprächsthemas war zuviel für mich; zanken Sie mich
nicht aus.
Raina: Ich vergaß--Sie könnten zu weinen anfangen. [Er nickt ganz
ernst, sie schmollt und fährt dann in gönnerhaftem Tone fort]: Ich
will Ihnen bloß sagen, daß mein Vater den höchsten Befehlshaberposten
in unserer Armee bekleidet, den irgend ein Bulgare innehat. [Stolz]:
Er ist Major!
Der Flüchtling [tut, als ob das einen tiefen Eindruck auf ihn machte]:
Major? Du lieber Himmel! Denken Sie nur!
Raina: Sie haben große Ortsunkenntnis bewiesen, indem Sie es für
nötig hielten, am Balkon heraufzuklettern, weil unser Haus das
einzige Privathaus ist, das zwei Reihen Fenster hat. Es ist eine
Treppe im Flur, auf der man hinauf und hinunter kann.
Der Flüchtling: Eine Treppe? Wie großartig! Sie sind aber von
ungewöhnlichem Luxus umgeben, verehrtes Fräulein.
Raina: Wissen Sie, was eine Bibliothek ist?
Der Flüchtling: Eine Bibliothek? Ein Zimmer voll Bücher?
Raina: Ja, wir haben ein solches, das einzige in ganz Bulgarien.
Der Flüchtling: Wahrhaftig? Ein wirkliches Bibliothekzimmer? Das
möchte ich aber gerne sehen.
Raina [geziert]: Ich sage Ihnen diese Dinge bloß, um Ihnen zu zeigen,
daß Sie bei zivilisierten Leuten sind, nicht im Hause von
ungebildeten Bauern, die Sie töten würden, sobald sie Ihre serbische
Uniform gewahrten. Wir gehen jedes Jahr zur Opernsaison nach
Bukarest, und ich habe schon einen ganzen Monat in Wien zugebracht.
Der Flüchtling: Das habe ich bemerkt, gnädiges Fräulein; ich habe
sofort gesehen, daß Sie die Welt kennen.
Raina: Haben Sie jemals die Oper Hernani gehört?
Der Flüchtling: Ist das die, in der ein Soldatenchor und ein Teufel
in rotem Samt vorkommt?
Raina [verachtungsvoll]: Nein.
Der Flüchtling [einen tiefen Müdigkeitsseufzer unterdrückend]: Dann
kenne ich die Oper nicht.
Raina: Ich dachte, Sie würden sich vielleicht an die große Szene
erinnern, in der Hernani auf der Flucht vor seinen Feinden--gerade so
wie Sie heute nacht--in das Schloß seines erbittertsten Gegners,
eines alten kastilianischen Granden, flüchtet! Der Edelmann
verweigert seine Auslieferung, sein Gast ist ihm heilig!
Der Flüchtling [rasch, wacht wieder etwas auf]: Sind Ihre Angehörigen
auch dieser Ansicht?
Raina [mit Würde]: Meine Mutter und ich, wir verstehen diese
"Ansicht", wie Sie sich ausdrücken, und wenn Sie, statt mich mit
Ihrer Pistole zu bedrohen, sich einfach als Flüchtling unserer
Gastfreundschaft anvertraut hätten, Sie wären sicher gewesen wie in
Ihrem Vaterhaus.
Der Flüchtling: Ganz gewiß?
Raina [kehrt ihm angewidert den Rücken]: Oh, es ist verlorene Mühe,
Ihnen etwas begreiflich machen zu wollen!
Der Flüchtling: Bitte, seien Sie nicht böse, Sie können sich denken,
wie schlimm es für mich wäre, wenn da ein Irrtum vorläge. Mein Vater
ist ein sehr gastfreundlicher Mann, er hat sechs Hotels, aber ich
könnte ihm nicht so weit vertrauen. Wie ist es mit Ihrem Herrn Vater?
Raina: Er ist fort, in Slivnitza, um für sein Vaterland zu kämpfen.
Ich bürge für Ihre Sicherheit. Hier meine Hand darauf. Wird Sie das
beruhigen? [Sie bietet ihm ihre Hand.]
Der Flüchtling [sieht seine eigene Hand zweifelhaft an]: Es ist
besser, wenn Sie meine Hand nicht berühren, verehrtes Fräulein, ich
muß mich erst waschen.
Raina [gerührt]: Das ist nett von Ihnen. Ich sehe, Sie sind ein
Gentleman.
Der Flüchtling [verwundert]: Wieso?
Raina: Sie dürfen nicht glauben, daß ich überrascht bin--die Bulgaren
aus besseren Kreisen, Leute in unserer Stellung zum Beispiel, waschen
sich auch fast täglich die Hände--aber ich schätze Ihr Zartgefühl,
Sie dürfen meine Hand nehmen. [Bietet ihm abermals die Hand.]
Der Flüchtling [küßt ihr die Hand, seine Hände auf dem Rücken]: Ich
danke Ihnen, mein liebenswürdiges Fräulein. Endlich fühle ich mich
geborgen. Bitte, wollen Sie so gut sein und Ihre Frau Mutter von
meiner Anwesenheit bald benachrichtigen; es würde sich nicht schicken,
wenn ich hier länger als nötig im geheimen verweilte.
Raina: Wenn Sie sich ganz ruhig verhalten wollen, während ich weg bin.
Der Flüchtling: Gewiß. [Er setzt sich auf die Ottomane, Raina geht
an das Bett, holt ihren Pelzmantel und wirft ihn um. Ihm fallen die
Augen zu, sie geht zur Tür, wirft einen letzten Blick nach ihm hin
und sieht, daß er im Begriff ist, einzuschlafen.]
Raina [an der Tür]: Sie werden jetzt doch nicht etwa einschlafen?
[Er murmelt unartikulierte Laute, sie läuft zu ihm hin und schüttelt
ihn.] Hören Sie? So wachen Sie doch auf--Sie schlafen ja ein!
Der Flüchtling: Was, ich schlafe ein? O nein, nicht im
geringsten--ich habe nur nachgedacht,,, es ist schon gut--ich bin
ganz wach.
Raina [strenge]: Wollen Sie so gut sein, stehen zu bleiben, während
ich weg bin--ja? [Er erhebt sich widerwillig]: Die ganze Zeit über,
verstanden!
Der Flüchtling [unruhig wankend]: Gewiß, gewiß, Sie können sich
darauf verlassen. [Raina sieht ihn ungläubig an, er lächelt matt,
sie geht zögernd zur Tür, wo sie sich umwendet, und ihn fast beim
Gähnen ertappt. Sie geht ab.]
Der Flüchtling [schlaftrunken]: Schlafen, schlafen, schlafen,
schlafen, schla,,,--[Die Worte gehen in ein Murmeln über, er rafft
sich wieder auf, im Begriff umzufallen.] Wo bin ich? Das möchte ich
gerne wissen,,, ich muß wach bleiben,,, nichts hält mich aber wach
außer Gefahr, bedenke das--[Nachdrücklich]: Gefahr, Gefahr, Gefahr,
Gef...--[Knickt wieder zusammen, rüttelt sich abermals auf.] Wo ist
Gefahr? Das muß ich ausfindig machen,,, [Er geht unsicher umher, als
wenn er nach Gefahr suchte.] Was suche ich da?,,, Schlaf--Gefahr--ich
weiß es nicht. [Er strauchelt gegen das Bett zu.] Ach ja, nun weiß
ich's,,, alles ist in Ordnung, ich soll zu Bett gehen--aber nicht
schlafen--ganz bestimmt nicht schlafen,,, wegen der Gefahr. Auch
nicht niederlegen, nur niedersetzen. [Er setzt sich auf das Bett,
sein Gesicht nimmt einen glücklichen Ausdruck an]: Ah,,,[Mit einem
freudigen Seufzer sinkt er der Länge nach zurück, hebt mit einer
letzten Anstrengung seine gestiefelten Beine ins Bett und fällt
sofort in tiefen Schlaf.]
[Katharina tritt ein, Raina folgt ihr.]
Raina [auf die Ottomane blickend]: Er ist fort, hier verließ ich ihn.
Katharina: Hier? Dann muß er hinuntergeklettert sein vom-Raina [ihn
erblickend]: Oh! [Sie zeigt auf ihn.]
Katharina [empört]: Ah! [Sie geht mit großen Schritten auf das Bett
zu, Raina folgt ihr und bleibt ihr gegenüber auf der andern Seite des
Bettes stehen.]Er ist fest eingeschlafen, dieser Unmensch!
Raina [ängstlich]: Scht!
Katharina [ihn schüttelnd]: Herr! [Ihn noch heftiger schüttelnd:]
Herr!! [Ihn außerordentlich stark schüttelnd:] Herr!!!
Raina [fällt ihr in den Arm]: Nicht, Mama, der arme Mann ist ganz
erschöpft, laß ihn schlafen.
Katharina [läßt ihn los und wendet sich erstaunt zu Raina]: Der arme
Mann! Raina! [Sieht ihre Tochter starr an, der Flüchtling schläft
fest.]
[Vorhang]
ZWEITER AKT
[Am 6. März 1886. In dem frischen hübschen Garten von Major Petkoffs
Haus an einem schönen Frühlingsmorgen. Hinter dem Zaun tauchen die
Spitzen von zwei Minaretts auf, die Wahrzeichen einer kleinen Stadt
im Tal. Ein paar Meilen davon entfernt erheben sich die Balkanberge
und umschließen die Landschaft. Wenn man vom Garten zu ihnen
hinüberblickt, liegt zur Linken die Seite des Hauses, aus der eine
kleine Tür mit Stufen davor in den Garten führt. Rechts schneidet
der Stallhof mit seinem Torweg in den Garten ein. Den Zaun und das
Haus entlang stehen Beerensträucher, die mit zum Trocknen
ausgespannter Wäsche behängt sind. Ein kleiner Weg führt an dem
Hause vorbei; er führt zwei Stufen empor an die Ecke und verliert
sich dann.--In der Mitte ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen aus
gebogenem Holz. Auf dem Tisch steht das Frühstück, eine türkische
Kaffeekanne, Kaffeetassen und Brötchen usw. Die Schalen wurden schon
gebraucht, und das Brot ist angebrochen.--An der Mauer zur Rechten
steht eine hölzerne Gartenbank.
Louka steht, eine Zigarette rauchend, zwischen Tisch und Haus und
kehrt mit zorniger Verachtung einem männlichen Dienstboten den Rücken,
der ihr eben eine Strafpredigt hält. Es ist ein Mann in den besten
Jahren, phlegmatisch und von niedriger, aber klarer und rascher
Intelligenz. Er hat die Selbstgefälligkeit eines Dieners, der seine
Dienste hoch einschätzt, und den unerschütterlichen Gleichmut eines
kalt berechnenden Menschen ohne Illusionen. Er trägt weiße
bulgarische Tracht, eine Jacke mit bunten Borten, weite Pumphosen,
Schärpe und verzierte Gamaschen. Sein Kopf ist bis an den Scheitel
glattrasiert, was ihm eine hohe japanische Stirne gibt. Sein Name
ist Nicola.]
Nicola: Laß dich rechtzeitig warnen, Louka, ändere dein Benehmen.
Ich kenne unsere Gnädige. Sie ist zu selbstbewußt, um sich jemals
träumen zu lassen, daß eine Dienerin es wagen könnte, ihr gegenüber
respektlos zu sein. Aber laß sie nur einmal bemerken, daß du ihr
Trotz bietest, und du fliegst hinaus.
Louka: Ich trotze ihr doch; ich will ihr trotzen--was liegt mir daran?
Nicola: Wenn du mit der Herrschaft Streit bekommst, kann ich dich
niemals heiraten; es ist genau so, als ob du dich mit mir nicht
vertragen würdest.
Louka: Du nimmst also ihre Partei gegen mich?
Nicola [gelassen]: Ich werde immer von der Gnade unserer Herrschaft
abhängig sein. Wenn ich den Dienst verlasse, um einen Laden in Sofia
aufzumachen, dann wird ihre Kundschaft mein halbes Kapital bedeuten.
Ein böses Wort von ihnen könnte mich zugrunde richten.
Louka: Du hast eben keine Kurage! Ich möchte sehen, ob sie sich
unterstehen würden, über mich ein böses Wort zu sagen!
Nicola [mitleidig]: Ich hätte dich für gescheiter gehalten, Louka,
aber du bist eben jung--noch sehr jung.
Louka: Gewiß. Ja, und du liebst mich darum um so mehr, nicht wahr?
Aber so jung ich bin, kenne ich doch ein paar Familiengeheimnisse,
von denen sie nicht wünschen würden, daß ich sie ausplaudere. Sie
sollen es nur wagen, mit mir anzubinden!
Nicola [mitleidig und überlegen]: Weißt du, was sie täten, wenn sie
dich so sprechen hörten?
Louka: Was könnten sie tun?
Nicola: Dich wegen Lügenhaftigkeit entlassen. Wer würde dir dann
jemals wieder ein Wort glauben, wer dir eine andere Stellung
verschaffen? Wer in diesem Hause würde es wagen, auch nur wieder mit
dir zu sprechen? Und wie lange würde dein Vater auf seinem kleinen
Bauernhof belassen werden?! [Sie wirft ungeduldig den Rest ihrer
Zigarette fort und tritt darauf]: Du großes Kind! Du weißt eben
nicht, was für eine Macht so hohe Herrschaften über unsereins haben,
sobald wir armen Teufel versuchen, uns gegen sie aufzulehnen. [Er
tritt nahe an sie heran, mit leiser Stimme]: Schau mich an! Seit
zehn Jahren diene ich in diesem Hause--glaubst du, daß ich da keine
Geheimnisse weiß? Ich weiß Dinge von unserer Frau! Nicht um tausend
Leu würde sie wollen, daß ihr Mann sie erführe! Und ich weiß Dinge
von ihm, wegen deren sie ihm ein halbes Jahr lang zusetzen würde,
wenn ich sie ausplaudern wollte. Ich weiß Dinge von Fräulein Raina!
Die Auflösung der Verlobung mit Sergius wäre die Folge, wenn--