Bernard Shaw

Candida Ein Mysterium in drei Akten
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(Marchbanks.)  Wie?

(Morell in guter Laune herausplatzend:)  Na, Sie Dummkopf.  (Aber dies
geräuschvolle Wesen verletzt sowohl ihn selbst als auch Eugen.  Er
hält inne und fährt mit liebevollem Ernst fort:)  Nein, Scherz beiseite,
mein lieber Junge! in einer glücklichen Ehe wie die unsere ist die
Rückkehr der Frau in ihr Haus etwas sehr Heiliges.  (Marchbanks sieht
ihn rasch an, und errät beinahe im voraus, was er sagen will.)  Aber
ein lieber Freund, eine wirklich vornehme, sympathische Seele ist bei
einer solchen Gelegenheit nicht im Wege,--der erstbeste Besucher wäre
es allerdings.  (Der gehetzte, erschreckte Ausdruck kommt plötzlich
und lebhaft in Eugens Gesicht, sowie er begreift.  Morell, mit seinen
eigenen Gedanken beschäftigt, fährt, ohne es zu bemerken, fort:)
Candida dachte, ich würde Sie vielleicht lieber nicht hier haben, aber
sie hatte unrecht.  Ich habe Sie sehr lieb, Eugen; und ich möchte es
auch Ihretwegen, daß Sie sehen, wie schön es ist, so glücklich
verheiratet zu sein wie ich.

(Marchbanks.)  Glücklich?  Ihre Ehe?  Das meinen Sie, das glauben Sie
wirklich?

(Morell heiter:)  Ich weiß es, mein Junge.  Laroche-foucauld behauptet
zwar, daß es höchstens passende, aber keine glücklichen Ehen gäbe.
Sie können sich nicht vorstellen, wie wohl es tut, einen so
abgefeimten Lügner und verderbten Zyniker zu durchschauen!  Ha, ha!
Nun aber fort in den Park und schreiben Sie Ihr Gedicht! und vergessen
Sie nicht: Punkt halb zwei Uhr!  Wir warten niemals mit dem Essen auf
jemand.

(Marchbanks wild:)  Nein, halten Sie ein, Sie sollen es auch nicht!
Ich will alles ans Licht bringen.

(Morell verwundert:)  Wie?  Was wollen Sie ans Licht bringen?

(Marchbanks.)  Ich muß mit Ihnen sprechen.  Es gibt etwas, das zwischen
uns erledigt werden muß.

(Morell mit einem belustigten Blick nach der Uhr:)  Jetzt?

(Marchbanks leidenschaftlich:)  Jawohl, jetzt.  Ehe Sie dieses Zimmer
verlassen.  (Er weicht ein paar Schritte zurück und steht so, als ob
er Morell den Weg zur Tür versperren wollte.)

(Morell ernst, ohne sich zu rühren, da er begreift, daß es sich um
etwas Ernstes handelt:)  Ich will es gar nicht verlassen.  Ich dachte,
Sie wollten gehen.--(Eugen ist von seinem sicheren Ton verwirrt und
wendet ihm, sich krümmend vor Verdruß, den Rücken zu.  Morell geht zu
ihm hin und legt die Hände auf seine Schultern, fest und gütig, ohne
Marchbanks Versuche, ihn abzuschütteln, zu beachten.)  Na--setzen Sie
sich ruhig und erzählen Sie mir, was los ist.  Und bedenken Sie eines:
wir sind Freunde und brauchen nicht zu fürchten, daß einer von uns
anders als geduldig und gütig zu dem andern sein werde, was wir
einander auch mögen zu sagen haben.

(Marchbanks windet sich hin und her:)  Oh, ich werde mich nicht
vergessen, ich bin nur (bedeckt sein Gesicht verzweifelt mit den
Händen:)  außer mir vor Entsetzen!  (Dann läßt er die Hände fallen, und
sich mutig vorwärts gegen Morell wendend, fährt er drohend fort:)  Sie
werden ja sehen, ob Geduld und Güte da am Platz sind.  (Morell,
unerschütterlich wie ein Felsen, sieht ihn nachsichtig an.)  Betrachten
Sie mich nicht so selbstgefällig!  Sie halten sich zwar für stärker
als mich, aber ich werde Sie aufrütteln, wenn Sie ein Herz im Leibe
haben.

(Morell mit mächtigem Vertrauen:)  Mich aufrütteln, mein Junge?  Nur zu!
Nur zu!  Heraus damit!

(Marchbanks.)  Zuerst--

(Morell.)  Zuerst?

(Marchbanks.)  Ich liebe Ihre Frau!  (Morell fährt zurück, und nachdem
er Eugen einen Augenblick äußerst erstaunt angestarrt hat, bricht er
in heftiges Lachen aus.  Eugen wird stutzig, verliert aber seine
Fassung nicht und steht empört und verachtungsvoll da.)

(Morell setzt sich, um sich auszulachen:)  Aber, mein liebes Kind,
natürlich lieben Sie Candida.  Jeder liebt sie, man kann nicht anders;
das freut mich nur, aber (er sieht seltsam zu ihm auf:)  halten Sie
Ihren Fall für etwas, über das man auch nur zu sprechen braucht?  Sie
sind unter zwanzig und Candida ist über dreißig,--sieht das nicht
einer Dummenjungenliebe ähnlich?

(Marchbanks heftig:)  Sie wagen, so von ihr zu sprechen!  Sie glauben,
daß Ihre Frau diese Art Liebe einflößen kann!--Das ist eine
Beleidigung gegen sie!

(Morell erhebt sich rasch und verändert den Ton:)  Gegen sie?  Nehmen
Sie sich in acht, Eugen.  Ich war geduldig.  Ich hoffe, geduldig zu
bleiben.  Aber es gibt Dinge, die ich mir verbitten muß.  Zwingen Sie
mich nicht, Ihnen die Nachsicht zu zeigen, die ich einem Kinde
gegenüber haben würde.  Seien Sie ein Mann.

(Marchbanks mit einer Bewegung, als würfe er etwas hinter sich:)  Oh,
lassen Sie dieses Geschwätz beiseite.  Ich bin entsetzt, wenn ich
denke, wieviel die Arme davon hat anhören müssen in den langen Jahren,
in denen Sie Candida selbstsüchtig und blind Ihrem Dünkel geopfert
haben!  (Sich nach ihm umwendend:)  Sie, der Sie nicht einen Gedanken,
nicht ein Gefühl mit ihr gemeinsam haben.

(Morell mit philosophischer Ruhe:)  Ihr scheint das alles aber recht
gut zu bekommen.  (Ihm gerade ins Gesicht blickend:)  Eugen, Sie machen
sich zum Narren--zu einem sehr großen Narren.  Es ist zu Ihrem eigenen
Besten, wenn man Ihnen das offen und ehrlich sagt.

(Marchbanks.)  Oh, glauben Sie, ich wüßte das alles nicht?  Glauben Sie,
daß die Dinge, über die Leute zu Narren werden, weniger wirklich und
wahr sind, als die, bei denen sie vernünftig bleiben?  (Morells Blick
wird zum ersten Male unsicher, er wendet instinktiv sein Gesicht ab
und steht horchend, bestürzt und nachdenklich da.)  Diese Dinge sind
noch viel wahrer, sie sind überhaupt die einzigen Dinge, die wahr sind.
Sie sind sehr ruhig und maßvoll und rücksichtsvoll gegen mich, weil
Sie sehen können, daß ich, was Ihre Frau betrifft, ein Narr bin.  So
wie der alte Mann, der eben hier war, zweifellos sehr weise über Ihren
Sozialismus denkt, weil er sieht, daß Sie sich dabei zum Narren machen.
(Morell wird sichtlich immer bestürzter, und Eugen nützt seinen
Vorteil aus, ihn heftig mit Fragen bedrängend:)  Beweist dies, daß Sie
unrecht haben?  Beweist Ihre sichere Überlegenheit mir gegenüber, daß
ich unrecht habe?

(Morell sich zu Eugen wendend, der seinen Platz behauptet:)  Marchbanks,
irgendein Teufel hat Ihnen diese Worte in den Mund gelegt.  Es ist
leicht, fürchterlich leicht, in einem Menschen den Glauben an sich
selbst zu erschüttern.  Dies auszunützen, um eines Menschen Seele zu
verwirren, ist Teufelswerk.  Hüten Sie sich davor!

(Marchbanks unbarmherzig:)  Das weiß ich!  Es geschieht absichtlich.
Ich sagte Ihnen ja, ich würde Sie aufrütteln.  (Sie sehen einander
einen Augenblick drohend in die Augen, dann findet Morell seine Würde
wieder.)

(Morell mit edler Güte:)  Eugen, hören Sie mich an.  Ich hoffe und baue
darauf, daß Sie eines Tages ein glücklicher Mensch sein werden, wie
ich.  (Eugen gibt durch eine zornige, ungeduldige Gebärde zu verstehen,
daß er an den Wert dieses Glückes nicht glaubt.  Morell, tief
beleidigt, beherrscht sich mit aller Nachsicht und fährt mit großer
künstlerischer Beredsamkeit fort:)  Sie werden verheiratet sein und mit
aller Macht und Ihrem besten Können daran arbeiten, jeden Erdenfleck,
den Sie betreten, so glücklich zu machen, wie Ihr eigenes Heim es sein
wird.  Sie werden einer von denen sein, die das Himmelreich auf Erden
bereiten wollen, und--wer weiß?--Sie mögen ein Pionier oder ein
Baumeister werden, wo ich nur ein demütiger Arbeiter bin.  Sie dürfen
nicht glauben, Eugen, daß ich in Ihnen, so jung Sie auch sind, nicht
jene Keime sehe, die Größeres versprechen, als ich jemals von mir
erwarten darf.  Ich weiß ganz gut, daß der Geist, der in einem Dichter
wohnt, heilig--daß er geradezu göttlich ist.  Sie sollten bei dem
Gedanken daran zittern, bei dem Gedanken, daß die schwere
Verpflichtung und die großen Gaben eines Dichters vielleicht einst auf
Ihren Schultern ruhen werden.

(Marchbanks unberührt und reuelos; die knabenhafte Knappheit seiner
Worte sticht scharf gegen Morells Beredsamkeit ab:)  Nicht davor
zittere ich!  Der Mangel dieser Gaben bei anderen, der macht mich
zittern.

(Morell verdoppelt die Kraft seiner Rede unter dem Einfluß seines
echten Gefühls und der Verstocktheit Eugens:)  Dann tragen Sie dazu bei,
jene Gaben in andere und in mich zu pflanzen--und nicht, sie
auszurotten.  Später einmal, wenn Sie so glücklich sein werden, wie
ich es bin, dann will ich Ihr treuer Glaubensbruder werden.  Ich will
Sie zu dem Glauben führen, daß Gott uns eine Welt geschenkt hat, die
nur unserer eigenen Unvernunft wegen kein Paradies ist, und daß jeder
Federstrich Ihrer Arbeit Glück aussät für die große Ernte, die
alle--selbst die Geringsten--eines Tages einführen werden.  Und
endlich will ich Ihnen nicht zum wenigsten zu dem Glauben verhelfen,
daß Ihre Frau Sie liebt und in ihrem Heim glücklich ist.  Wir brauchen
solche Hilfe, Marchbanks, wir haben sie immer sehr nötig.  Es gibt so
viele Dinge, die in uns Zweifel wecken, wenn wir uns erst einmal haben
unsern Glauben trüben lassen.  Selbst zu Hause sitzen wir wie in einem
Kriegslager, umgeben von einer feindlichen Armee von Zweifeln.  Wollen
Sie den Verräter spielen und sie zu mir einlassen?

(Marchbanks sich umblickend:)  Ist es für sie hier immer so gewesen?
Daß eine Frau mit einer großen Seele, die nach Wahrheit, Wirklichkeit
und Freiheit dürstet, bloß mit Metaphern, Predigten und abgedroschenen
Redensarten abgespeist wird?  Glauben Sie, daß die Seele einer Frau
von Ihrem Predigertalent leben kann?

(Morell tief verwundet:)  Marchbanks, Sie machen es mir schwer, mich zu
beherrschen.  Mein Talent gleicht dem Ihren, sofern es überhaupt einen
echten Wert besitzt: es ist die Gabe, göttliche Wahrheit in Worte zu
kleiden.

(Marchbanks ungestüm:)  Es ist die Gabe des Mundwerks, nicht mehr und
nicht weniger.  Was hat Ihre Fertigkeit, schöne Reden zu halten, mit
der Wahrheit zu schaffen?--so wenig, wie das Orgelspiel mit ihr zu
schaffen hat.  Ich war niemals in Ihrer Kirche, aber ich war in Ihren
politischen Versammlungen und habe Sie dort das tun sehen, was man die
Menge zum Enthusiasmus hinreißen nennt.  Das heißt: die Leute regten
sich auf und benahmen sich, als ob sie betrunken wären.  Ihre Frauen
sahen zu und merkten, was für Narren sie zu Männern hatten.  Oh, das
ist eine alte Geschichte, Sie können sie schon in der Bibel finden.
--Mir scheint, König David in seinem Enthusiasmus war Ihnen sehr
ähnlich.  (Ihm die Worte in die Seele hohrend:)  "Aber sein Weib
verachtete ihn in ihrem Herzen!"

(Morell wütend:)  Verlassen Sie mein Haus!  Hören Sie?  (Er gebt
drohend auf ihn los.)

(Marchbanks gegen das Sofa zurückweichend:)  Lassen Sie mich in Frieden,
rühren Sie mich nicht an!

(Morell faßt ihn kräftig am Aufschlag seines Rockes; er duckt sich auf
das Sofa nieder.)

(Marchbanks schreit leidenschaftlich:)  Halten Sie ein; wenn Sie mich
schlagen, so töte ich mich, ich würde es nicht ertragen!  (Beinahe
hysterisch:)  Lassen Sie mich los: nehmen Sie Ihre Hand fort!

(Morell langsam, mit nachdrücklicher Geringschätzung:)  Sie kleiner,
winselnder, feiger Hund!  (Er läßt ihn los:)  Gehen Sie, sonst fallen
Sie aus Angst in Ohnmacht.

(Marchbanks auf dem Sofa nach Luft schnappend, aber befreit durch das
Zurückziehen von Morells Hand:)  Ich fürchte mich nicht vor Ihnen, Sie
fürchten sich vor mir!

(Modell ruhig, über ihn gebeugt:)  Es sieht mir ganz danach aus!

(Marchbanks mit dreister Heftigkeit:)  Ja; es sieht so aus.  (Morell
wendet sich verachtungsvoll ab, Eugen steht hastig auf und folgt ihm.)
Weil ich vor einer brutalen Behandlung zurückschrecke, weil (mit
Tränen in der Stimmt:)  ich nichts anderes tun kann, als heulen vor Wut,
wenn mir Gewalt angetan wird--weil ich keinen schweren Koffer vom
Kutscherbock herabheben kann wie Sie--weil ich mit Ihnen nicht um Ihre
Frau raufen kann wie ein Arbeiter--deshalb glauben Sie, ich hätte
Angst vor Ihnen!  Aber Sie irren.  Besitze ich auch nicht Ihren
berühmten britischen Mut, so besitze ich doch auch nicht die britische
Feigheit.  Ich fürchte mich vor den Ansichten eines Pastors nicht.
Ich will kämpfen gegen Ihre Ansichten.  Ich will Candida von der
Sklaverei dieser Ansichten befreien, ich will meine eigenen Ansichten
den Ihren entgegenstellen.  Sie jagen mich aus dem Hause, weil Sie es
nicht wagen, Candida zwischen meinen und Ihren Ansichten wählen zu
lassen!  Sie fürchten sich vor einem Wiedersehen zwischen Ihrer Frau
und mir.  (Morell wendet sich plötzlich zornig zu ihm; er flüchtet
nach der Tür in unfreiwilliger Angst:)  Lassen Sie mich in Ruhe.  Ich
gehe.

(Morell mit kalter Verachtung:)  Warten Sie einen Augenblick: ich werde
Sie nicht berühren, fürchten Sie sich nicht.  Wenn meine Frau
zurückkommt, dürfte sie wissen wollen, warum Sie fortgegangen sind;
und wenn sie erfährt, daß Sie unsere Schwelle nie wieder überschreiten
werden, dann wird sie darüber Aufklärung verlangen.  Nun möchte ich
sie nicht betrüben und ihr sagen, daß Sie sich wie ein Schuft benommen
haben.

(Marchbanks kehrt mit erneuter Heftigkeit um:)  Sie sollen es--Sie
müssen!  Wenn Sie irgendeine andere Aufklärung als die wahre geben, so
sind Sie ein Lügner und ein Feigling.  Sagen Sie ihr, was ich gesagt
habe, und wie Sie stark und männlich waren und mich zerzaust haben wie
ein Hund eine Ratte, und wie ich zurückwich und entsetzt war, und wie
Sie mich einen winselnden kleinen Hund nannten und mich aus dem Hause
jagten!  Wenn Sie ihr das alles nicht sagen werden, so werde ich es
tun!  Ich werd' es ihr schreiben.

(Morell verblüfft:)  Warum wollen Sie, daß sie das alles erfahren soll?

(Marchbanks mit lyrischer Begeisterung:)  Weil sie mich dann verstehen
und wissen wird, daß ich sie verstehe.  Wenn Sie nur ein Wort von
alledem vor ihr verheimlichen--wenn Sie nicht bereit sind, ihr die
reine Wahrheit zu Füßen zu legen--wie ich--dann werden Sie bis an das
Ende Ihrer Tage wissen, daß sie in Wirklichkeit mir gehört und nicht
Ihnen.  Leben Sie wohl.  (Er wendet sich zum Geben.)

(Morell in furchtbarer Unrube:)  Halt! ich werde ihr das alles nicht
erzählen.

(Marchbanks wieder nach der Tür, wendet sich um:)  Sie müssen ihr
entweder die Wahrheit sagen, wenn ich gehe, oder eine Lüge.

(Morell zögernd:)  Marchbanks, es ist manchmal entschuldbar--

(Marchbanks ihn unterbrechend:)  Zu lügen--ich weiß!  Diesmal wïrd es
aber vergeblich sein!  Leben Sie wohl, Herr Pfarrer!  (Wie er sich
endlich zur Tür wendet, geht diese auf und Candida tritt in ibrem
Hauskleid ein.)

(Candida.)  Sie verlassen uns, Eugen?  (Sieht ihn genauer an:)  Aber,
Sie werden doch nicht in diesem Zustand auf die Straße gehen.  Sie
sind ein Dichter, sicherlich!  Sieh' ihn nur an, Jakob!  (Sie faßt
Eugen am Rock und zieht ihn nach vorne, ihn Morell zeigend.)  Sieh
diesen Kragen an und diese Krawatte und dieses Haar.  (Zu Eugen:)  Man
möchte glauben, daß jemand Sie hat erdrosseln wollen!  (Die beiden
büten sich, ihr schlechtes Gewissen zu verraten.)  Da,--halten Sie
still.  (Sie knöpft ihm seinen Kragen, bindet sein Halstuch zu einer
Schleife und ordnet sein Haar.)  So, so!  Nun sehen Sie so nett aus,
daß ich es doch für besser hielte, Sie frühstückten mit uns, obwohl
Sie es eigentlich nicht sollten, wie ich Ihnen schon gesagt habe.  In
einer halben Stunde wird das Essen bereit sein.  (Sie glättet sein
Halstuch noch mit einer letzten Berübrung; er küßt ihr die Hand.)
Nicht dumm sein.

(Marchbanks.)  Ich möchte schon bleiben, gewiß--falls Ihr verehrter
Herr Gemahl, der Herr Pastor, nichts dagegen einzuwenden hat.

(Candida.)  Soll er bleiben, Jakob, wenn er verspricht, ein braver
Junge zu sein und mir beim Tischdecken zu helfen?  (Marchbanks wendet
den Kopf und sieht Morell über die Schulter fest an, seine Antwort
herausfordernd.)

(Morell kurz angebunden:)  O ja, gewiß; es wäre mir lieb.  (Er geht an
den Tisch und tut, als ob er mit den Papieren beschäftigt wäre.)

(Marchbanks bietet Candida den Arm:)  Decken wir den Tisch.  (Sie nimmt
seinen Arm, dann wenden sie sich zusammen nach der Tür, im Hinausgehen.)
Nun bin ich der glücklichste Mensch von der Welt!

(Morell.)  Das war ich auch--vor einer Stunde.

(Vorhang)




ZWEITER AKT

(An demselben Tage, dasselbe Zimmer spät nachmittags.  Der Stuhl für
Morells Besucher steht wieder an dem Tisch, der womöglich noch
unordentlicher aussiebt als vorhin. Marchbanks, allein und müßig,
versucht herauszukriegen, wie die Schreibmaschine arbeitet.
Er hört jemanden kommen und stiehlt sich schuldbewußt fort an
das Fenster und tut so, als ob er in die Aussiebt versunken
wäre.  Proserpina Garnett tritt mit ihrem Notizblock ein, der
das Stenogramm von Morells Briefen enthält.  Sie setzt sich an die
Schreibmaschine und will mit der Abschrift beginnen.  Sie ist viel zu
sehr beschäftigt, um Eugen zu bemerken.  Unglücklicherweise versagt
die erste Taste, auf die sie schlägt.)

(Proserpina.)  Himmel!  Sie haben sich mit der Maschine zu schaffen
gemacht, Herr Marchbanks, und es hilft Ihnen nichts, wenn Sie auch
noch so ein unschuldiges Gesicht aufsetzen.

(Marchbanks schüchtern:)  Es tut mir sehr leid, Fräulein Garnett.  Ich
wollte nur zu schreiben versuchen.

(Proserpina.)  Und dabei haben Sie diese Taste verdorben.

(Marchbanks ernst:)  Ich versichere Ihnen, daß ich die Tasten nicht
berührt habe.  Wahrhaftig nicht.  Ich habe nur ein kleines Rad gedreht.
(Er zeigt unschlüssig auf die Kurbel.)

(Proserpina.)  Oh, nun verstehe ich.  (Sie bringt die Maschine in
Ordnung und schwatzt dabei ununterbrochen:)  Mir scheint, Sie dachten,
es wäre eine Art Drehorgel.  Man braucht nur die Kurbel da zu drehen,
und die Maschine schreibt einem den schönsten Liebesbrief glatt aufs
Papier, he?

(Marchbanks ernst:)  Ich kann mir vorstellen, daß eine Maschine
erfunden werden könnte, die Liebesbriefe schreibt.--Es sind ja immer
dieselben, nicht wahr?

(Proserpina etwas aufgebracht, da jede derartige Unterhaltung--außer
scherzweise einmal--ihren Umgangsformen fernliegt:)  Woher soll ich das
wissen?  Warum fragen Sie mich?

(Marchbanks.)  Entschuldigen Sie.  Ich dachte, daß gescheite
Leute--Leute, die Geschäfte besorgen, Briefe schreiben und ähnliche
Dinge verrichten können--auch immer Liebesangelegenheiten haben.

(Proserpina erbebt sich beleidigt:)  Herr Marchbanks!  (Sie siebt ihn
strenge an und gebt sehr würdevoll zum Bücherschrank.)

(Marchbanks nähert sich ihr demütig:)  Ich hoffe, daß ich Sie nicht
beleidigt habe.  Ich hätte vielleicht auf Ihre Liebesangelegenheiten
nicht anspielen sollen.

(Proserpina nimmt ein blaues Buch aus einem Fach und wendet sich
scharf nach ihm um:)  Ich habe keine Liebesangelegenheiten!  Wie können
Sie es wagen, mir so etwas zu sagen?

(Marchbanks naiv:)  Wirklich?  Oh, dann sind Sie auch schüchtern, wie
ich, nicht wahr?

(Proserpina.)  Ich bin gewiß nicht schüchtern: was meinen Sie damit?

(Marchbanks geheimnisvoll:)  Sie müssen es sein.  Das ist der Grund,
warum es so wenig echte Liebesgeschichten in der Welt gibt.  Wir gehen
alle umher und sehnen uns nach Liebe, sie ist die erste
Naturnotwendigkeit, das heißeste Gebet unseres Herzens, aber wir wagen
es nicht, unsere Wünsche zu äußern, wir sind zu schüchtern.  (Sehr
ernst:)  Oh, Fräulein Garnett, was würden Sie nicht darum geben, ohne
Furcht zu sein,--ohne Scham--

(Proserpina empört:)  Nein, meiner Treu, das ist stark!

(Marchbanks trotzig und ungeduldig:)  Sagen Sie mir nicht solche
Albernheiten.  Sie täuschen mich doch nicht.  Wozu soll das sein?
Warum scheuen Sie sich, sich mir gegenüber so zu zeigen, wie Sie sind?
Ich bin ja selbst genau so wie Sie.

(Proserpina.)  Wie ich?  Bitte, ich weiß nicht recht, wollen Sie damit
mir oder sich schmeicheln?  (Sie wendet sich ab, um zur
Schreibmaschine zurückzugeben.)

(Marchbanks tritt ihr geheimnisvoll in den Weg:)  Still!  Ich bin auf
der Suche nach Liebe, und ich finde sie in unermeßlichen Schätzen in
den Herzen anderer aufgespeichert.  Aber ich wage es nicht, darum zu
bitten,--eine fürchterliche Schüchternheit schnürt mir die Kehle zu,
und ich stehe da, stumm, ärger als stumm, und rede sinnloses Zeug und
stammle törichte Lügen.  Und ich sehe die Liebe, nach der ich
verschmachte, an Katzen und Hunde und verhätschelte Vögel vergeudet,
weil die kommen und darum bitten.  (Beinahe flüsternd:)  Man muß Liebe
verlangen,--sie ist wie ein Geist, sie kann nicht sprechen, bevor
nicht zu ihr gesprochen wird.  (Mit seiner gewohnten Stimme, aber mit
tiefer Melancholie:)  Alle Liebe in der Welt ringt nach Worten, aber
sie wagt es nicht, zu sprechen, weil sie zu schüchtern ist, zu
schüchtern, zu schüchtern!  Das ist die Tragik des Lebens!  (Mit einem
tiefen Seufzer setzt er sieb in den Besuchsstuhl und vergräbt sein
Gesicht in den Händen.)

(Proserpina verwundert, aber ohne ihren gesunden Menschenverstand zu
verlieren,--ein Ehrenpunkt für sie im Verkehr mit fremden jungen
Männern:)  Es gibt aber schlechte Menschen, die diese Schüchternheit
gelegentlich überwinden, nicht wahr?

(Marchbanks fährt beinahe wütend auf:)  Schlechte Menschen!  Das heißt
Menschen, die ohne Liebe sind, deshalb sind sie auch ohne Scham!  Sie
haben den Mut, Liebe zu verlangen, weil sie keine brauchen; sie haben
den Mut, sie anzubieten, weil sie keine zu geben haben!  (Er sinkt in
seinen Stuhl und fügt traurig hinzu:)  Aber wir, die wir Liebe haben
und danach brennen, sie mit anderen auszutauschen, wir können kein
Wort über die Lippen bringen.  (Schüchtern:)  Finden Sie das nicht auch?

(Proserpina.)  Nehmen Sie sich in acht.  Wenn Sie nicht aufhören, so zu
reden, werde ich das Zimmer verlassen, Herr Marchbanks.  Ich tue es
wirklich!  Das gehört sich nicht.  (Sie nimmt ihren Sitz vor der
Schreibmaschine wieder ein, öffnet das blaue Buch und macht sich
bereit, daraus etwas zu kopieren.)

(Marchbanks hilflos:)  Nichts gehört sich, was wert ist, daß man
darüber spricht!  (Er erhebt sich und wandert verloren im Zimmer umher:
) Ich kann Sie nicht begreifen, Fräulein Garnett.  Worüber soll ich
denn sprechen?

(Proserpina fertigt ihn kurz ab:)  Sprechen Sie über gleichgültige
Dinge.  Sprechen Sie über das Wetter.

(Marchbanks.)  Würden Sie es ertragen, über gleichgültige Dinge zu
sprechen, wenn ein Kind neben Ihnen stünde, das vor Hunger bitterlich
weinte?

(Proserpina.)  Vermutlich nicht.

(Marchbanks.)  Nun, ich kann auch nicht über gleichgültige Dinge
sprechen, während mein Herz in seinem Hunger bitterlich weint.

(Proserpina.)  Dann--schweigen Sie.

(Marchbanks.)  Jawohl, darauf läuft's immer hinaus, wir schweigen.
Unterdrückt das den Schrei Ihres Herzens--denn es schreit, nicht wahr?
Es muß, wenn Sie überhaupt ein Herz haben.

(Proserpina erhebt sich plötzlich und preßt ihre Hand aufs Herz.)  Oh,
es ist vergeblich, arbeiten zu wollen, während Sie so reden.  (Sie
verläßt ihren kleinen Tisch und setzt sich auf das Sofa.  Ihre Gefühle
sind heftig aufgewühlt.)  Es kümmert Sie gar nichts, ob mein Herz
schreit oder nicht, aber es ist mir so, als müßte ich nun doch über
all das zu Ihnen sprechen.

(Marchbanks.)  Das brauchen Sie nicht; ich weiß doch, daß es so ist.

(Proserpina.)  Merken Sie sich: wenn Sie jemals behaupten sollten, daß
ich derlei gesagt habe, dann werde ich es leugnen.

(Marchbanks mitleidig:)  Ja, das weiß ich.  Deshalb finden Sie auch
nicht den Mut, es ihm zu sagen.

(Proserpina aufspringend:)  Ihm?!  Wem?!

(Marchbanks.)  Wem es auch sei.  Dem Manne, den Sie lieben.  Irgend
jemandem.  Dem Unterpfarrer Herrn Mill vielleicht.

(Proserpina verachtungsvoll:)  Herrn Mill?  Wahrhaftig, das ist der
rechte Mann, mir das Herz zu brechen.  Da wären Sie mir noch lieber.

(Marchbanks zurückweichend:)  Nein, wirklich!  Es tut mit leid, aber
daran dürfen Sie nicht denken.  Ich--

(Proserpina scharf, geht ans Feuer und bleibt davor stehen, ihm den
Rücken zuwendend:)  Oh, fürchten Sie nichts, Sie sind es nicht.  Es ist
gar keine bestimmte Person.

(Marchbanks.)  Ich verstehe.  Sie fühlen, daß Sie jeden Mann lieben
könnten, der Ihnen sein Herz anböte--

(Proserpina außer sich:)  Nein, das könnte ich nicht!  Jeden, der mir
sein Herz anböte!  Für was halten Sie mich?

(Marchbanks entmutigt:)  Es ist vergebens, Sie wollen mir keine
wirklichen Antworten geben, nur diese leeren Worte, die jedermann sagt.
(Er geht nach dem Sofa und setzt sich trostlos nieder.)

(Proserpina die es wurmt, in den Augen eines Aristokraten manierlos zu
erscheinen:)  Wenn Sie originelle Unterhaltung wünschen, dann ist es
besser, Sie sprechen mit sich selbst.

(Marchbanks.)  Das tun alle Dichter; sie sprechen laut mit sich selbst;
und die Welt überhört sie.  Aber es ist furchtbar einsam, nicht
manchmal auch jemand anders sprechen zu hören.

(Proserpina.)  Warten Sie, bis Herr Morell kommt.  Der wird schon mit
Ihnen reden.  (Marchbanks schaudert.)  Oh, Sie brauchen die Nase nicht
zu rümpfen, er kann besser sprechen als Sie.  (Lebhaft:)  Er wird Ihnen
den kleinen Kopf schon zurechtsetzen.  (Sie ist im Begriff ärgerlich
an ihren Platz zurückzugeben, als er, plötzlich erleuchtet, aufspringt
und sie anhält.)

(Marchbanks.)  Ah, jetzt begreife ich!

(Proserpina errötend:)  Was begreifen Sie?

(Marchbanks.)  Ihr Geheimnis!  Sagen Sie mir, ist es wirklich und
wahrhaftig möglich, daß eine Frau ihn liebt?

(Proserpina als ob dies ihr über den Spaß ginge:)  Genug!

(Marchbanks leidenschaftlich:)  Nein, antworten Sie mir!  Ich will es
wissen, ich muß es wissen, ich kann es nicht begreifen.  Ich kann an
ihm nichts finden als Worte, fromme Vorsätze, was die Leute Güte
nennen!  Sie können ihn deswegen doch nicht lieben!

(Proserpina versucht, ihn durch ihr kühles Wesen stutzig zu machen:)
Ich weiß ganz einfach nicht, wovon Sie sprechen--ich verstehe Sie
nicht.

(Marchbanks heftig:)  Sie verstehen mich ganz gut.  Sie lügen!

(Proserpina.)  Oh!

(Marchbanks.)  Sie verstehen, und Sie wissen.  (Entschlossen, eine
Antwort zu bekommen:)  Ist es möglich, daß eine Frau ihn lieben kann?
Ja oder nein!

(Proserpina ihm gerade ins Gesicht blickend:)  Ja!  (Er bedeckt sein
Gesicht mit den Händen.)  Was in aller Welt fehlt Ihnen denn?  (Er
nimmt die Hände herab und sieht sie an.  Erschreckt über das traurige
Gesicht, das sich ihr darbietet, eilt sie so weit wie möglich von ihm
fort, behält aber ihre Augen auf ihn gerichtet, bis er sich von ihr
abwendet und nach dem Kinderstuhl am Kamin geht, wo er sich in
tiefster Trostlosigkeit niederläßt.  Proserpina eilt zur Tür, die Tür
geht auf und Burgess tritt ein.  Als sie ihn erblickt, ruft sie aus:)
Gott sei Dank, es kommt jemand!  (Setzt sich wieder beruhigt an ihren
Tisch.  Sie legt einen neuen Bogen in die Maschine, während Burgess zu
Eugen hinübergebt.)

(Burgess beflissen, sich um den vornehmen Besucher zu kümmern:)  Na,
gehört sich das, wie man Sie hier sich selbst überläßt, Herr
Marchbanks?  Ich bin gekommen, Ihnen Gesellschaft zu leisten.
(Marchbanks siebt zu ihm mit einer Bestürzung auf, die Burgess aber
gar nicht merkt.)  Jakob empfängt eine Deputation im Speisezimmer, und
Candy ist oben und unterrichtet eine junge Näherin, für die sie sich
interessiert.  Sie sitzt bei ihr und lehrt sie lesen, in einem frommen
Buche: die himmlischen Zwillinge.  (Teilnahmsvoll:)  Sie müssen es hier
recht langweilig finden, so ohne einen Menschen, mit dem Sie reden
können, außer der Schreiberin.

(Proserpina äußerst erbittert:)  Er wird sich jetzt ganz wohl fühlen,
da er das Glück hat, Ihre gebildete Unterhaltung zu genießen,--das ist
schon ein Trost.  (Sie beginnt mit heftigem Geräusch zu schreiben.)

(Burgess erstaunt über ihre Kühnheit:)  Mit Ihnen hab' ich nicht
gesprochen, soviel ich weiß, Sie junges Ding!

(Proserpina scharf zu Marchbanks:)  Haben Sie jemals solche Manieren
gesehen, Herr Marchbanks?

(Burgess mit wichtigtuendem Ernst:)  Herr Marchbanks ist ein Edelmann,
der seine Stellung kennt; das ist mehr, als manche Leute von sich
sagen können.

(Proserpina zornig:)  Glücklicherweise gehören Sie und ich nicht zu den
"Damen" und "Herren"; ich würde Ihnen schon meine Meinung sagen, wenn
Herr Marchbanks nicht zugegen wäre.  (Sie zieht den Brief so heftig
aus der Maschine heraus, daß er zerreißt.)  So! nun habe ich den Brief
verdorben, jetzt kann ich noch mal von vorne anfangen.  Oh, ich kann
mich nicht beherrschen.--Sie dummer alter Schafskopf, Sie!

(Burgess erhebt sich, atemlos vor Entrüstung:)  Was, ein dummer alter
Schafskopf bin ich?!  Das ist stark!  (Außer Atem:)  Gut, gut!  Warten
Sie nur, das werde ich Ihrem Prinzipal sagen--ich will Sie lehren--Sie
sollen es sehen!

(Proserpina.)  Ich--

(Burgess sie unterbrechend:)  Genug, Ihr Reden nützt Ihnen nun nichts
mehr, Sie sollen mich kennen lernen! (Proserpina schiebt ihre Walze
mit einem zornigen Stoß herum und setzt verachtungsvoll ihre Arbeit
fort.)  Nehmen Sie keine Notiz von ihr, Herr Marchbanks, sie ist es
nicht wert.  (Er setzt sich stolz wieder hin.)

(Marchbanks fürchterlich nervös und verlegen:)  Wäre es nicht besser,
wir würden von etwas anderem sprechen.  Ich--ich glaube nicht, daß
Fräulein Garnett es böse gemeint hat.

(Proserpina mit fester Überzeugung:)  Ob ich es böse gemeint habe!
Doch!

(Burgess.)  Ich will mich nicht so weit erniedrigen, von ihr überhaupt
noch Notiz zu nehmen.  (Eine elektrische Klingel läutet zweimal.)

(Proserpina rafft Notizhlock und Papier zusammen:)  Das gilt mir!  (Sie
eilt hinaus.)

(Burgess ihr nachrufend:)  Oh, wir können Sie entbehren.  (Er freut
sich über den Triumph, das letzte Wort behalten zu haben, und doch
halb und halb geneigt, noch mehr zu sagen, sieht er ihr einen
Augenblick lang nach, dann läßt er sich auf seinen Platz neben Eugen
nieder und spricht sehr vertraulich zu ihm:)  Jetzt, wo wir allein sind,
Herr Marchbanks, lassen Sie mich Ihnen einen freundlichen Wink geben,
den ich nicht jedermann geben würde.  Wie lange kennen Sie meinen
Schwiegersohn Jakob schon?

(Marchbanks.)  Ich weiß nicht.  Ich kann mir Daten niemals merken,
--vielleicht einige Monate.

(Burgess.)  Haben Sie nie etwas Sonderbares an ihm bemerkt?

(Marchbanks.)  Nicht daß ich wüßte.

(Burgess ausdrucksvoll:)  Das werden Sie auch schwerlich.  Darin liegt
eben die Gefahr.  Nun--er ist verrückt.

(Marchbanks.)  Verrückt?!

(Burgess.)  Total verrückt.  Beobachten Sie ihn nur, und Sie werden es
selbst finden.

(Marchbanks ängstlich:)  Aber das scheint Ihnen gewiß nur so, weil
seine Ansichten--

(Burgess berührt Eugens Knie mit dem Zeigefinger und drückt es, um
seine Aufmerksamkeit zu erregen:)  Genau dasselbe habe ich früher
gedacht, Heir Marchbanks.  Ich glaubte lange genug, es wären nur seine
Ansichten, obwohl Ansichten zu sehr ernsten Angelegenheiten werden,
sobald Leute danach handeln, wie er; aber danach habe ich nicht
geurteilt.  (Er siebt umher, um sich zu überzeugen, daß sie allein
sind, und neigt sich zu Eugens Ohr.)  Was, glauben Sie, hat er heute
morgen in diesem Zimmer zu mir gesagt?

(Marchbanks.)  Was denn?

(Burgess.)  Er sagte mir, daß ich--so wahr, als wir hier sitzen--er
sagte ganz ruhig: "Ich bin ein Narr und Sie sind ein Schurke"...  Ich
ein Schurke--bedenken Sie nur--und dann schüttelte er mir die Hand
dazu, als ob seine Meinung schmeichelhaft für mich wäre.  Wollen Sie
behaupten, daß so ein Mensch nicht verrückt ist?

(Morell von außen "Proserpina" rufend, während er die Tür öffnet:)
Schreiben Sie alle Namen und Adressen auf, Fräulein Garnett.

(Proserpina aus der Entfernung:)  Jawohl, Herr Pastor!  (Morell tritt
ein, mit den Dokumenten der Deputation in der Hand.)

(Burgess beiseite zu Marchbanks:)  Oh, da ist er.  Beobachten Sie ihn
nur, Sie werden schon sehen.  (Erhebt sich mit wichtiger Miene:)  Ich
bedaure, Jakob, mich bei Ihnen beklagen zu müssen.  Ich tue es nicht
gerne, aber ich fühle, daß es meine Pflicht und mein Recht ist.

(Morell.)  Was ist denn geschehen?

(Burgess.)  Herr Marchbanks wird es bestätigen, er war Zeuge.  (Sehr
feierlich:)  Ihre Schreiberin vergaß sich so weit, mich einen dummen
alten Schafskopf zu nennen.

(Morell mit größter Herzlichkeit:)  Oh, sieht das Prossi nicht ganz
ähnlich?  Sie ist so aufrichtig, sie kann sich nicht beherrschen.
Arme Prossi, ha, ha!

(Burgess zitternd vor Wut:)  Und erwarten Sie, daß ich mir das von
ihresgleichen ruhig gefallen lasse?

(Morell.)  Bah, Unsinn.  Nehmen Sie keine Notiz davon, lassen Sie's gut
sein.  (Er geht an das Schreibpult und legt die Papiere in eines der
Schubfächer.)

(Burgess.)  Oh, ich mache mir nichts daraus.  Ich bin über derlei
erhaben.  Aber war es recht?  Das ist es, was ich zu wissen wünsche!
--war es recht?

(Morell.)  Das ist eine Frage für die Kirche und nicht für Laien.
Wurde Ihnen dadurch irgendein Schaden zugefügt? danach müssen Sie
fragen--selbstverständlich "nein".  Also denken Sie nicht mehr daran.
(Er läßt den Gegenstand fallen, geht nach seinem Platz an den Tisch
und beginnt an seiner Korrespondenz zu arbeiten.)

(Burgess beiseite zu Marchbanks:)  Was habe ich Ihnen gesagt?  Total
verrückt!  (Er geht an den Tisch und fragt mit der Höflichkeit eines
Hungrigen:)  Wann wird zu Tisch gegangen, Jakob?

(Morell.)  Erst nach einigen Stunden.

(Burgess mit klagender Entsagung:)  Dann geben Sie mir, bitte, ein
hübsches Buch, am Kamin zu lesen--sein Sie so gut, Jakob.

(Morell.)  Was für ein Buch,--ein gutes?

(Burgess beinahe mit einem Aufschrei des Widerwillens:)  Nein.  Irgend
was Lustiges, womit man die Zeit totschlagen kann.

(Morell nimmt eine illustrierte Zeitschrift vom Tisch und bietet sie
ihm an, er ergreift sie demütig:)  Ich danke Ihnen, Jakob.  (Er geht
zurück zum Kamin, läßt sich bequem in den großen Stuhl nieder und
liest.)

(Morell während er schreibt:)  Candida wird gleich kommen und Ihnen
Gesellschaft leisten.  Sie ist jetzt fertig mit ihrer Schülerin und
füllt die Lampen.

(Marchbanks fährt empor in wildem Entsetzen:)  Aber das wird ihre Hände
beschmutzen,--das kann ich nicht dulden, Herr Pastor, das ist eine
Schande; ich werde die Lampen füllen.  (Er wendet sich nach der Tür.)

(Morell.)  Lassen Sie es lieber sein.  (Marchbanks bleibt unschlüssig
stehen: ) Sie würde Ihnen höchstens meine Schuhe zu putzen geben, um
mir die Arbeit zu ersparen, es morgen früh selbst zu tun.

(Burgess mit großer Mißbilligung:)  Halten Sie kein Mädchen mehr, Jakob?

(Morell.)  Ja, aber es ist keine Sklavin, und das Haus sieht aus, als
ob ich drei hielte.  Daraus folgt, daß jeder mithelfen muß.  Das geht
ganz gut.  Prossi und ich können nach dem Frühstück, während wir
abwaschen, über unsere Geschäfte sprechen; das Abwaschen macht keine
Mühe, wenn es zwei besorgen.

(Marchbanks gequält:)  Glauben Sie, daß jede Frau so grobkörnig ist wie
Fräulein Garnett?

(Burgess pathetisch:)  Sie haben ganz recht, Herr Marchbanks,
vollkommen recht,--die ist grobkörnig!

(Morell ruhig und bedeutungsvoll:)  Marchbanks!

(Marchbanks.)  Ja.

(Morell.)  Wie viele Dienstboten hält Ihr Vater?

(Marchbanks.)  Oh, ich weiß nicht.  (Er gebt unbehaglich an das Sofa
zurück, als ob er sich so weit fort wie möglich vor Morells Fragen
retten möchte, setzt sich in großer Verstörtheit und denkt an das
Petroleum.)

(Morell sehr ernst:)  So viele, daß Sie es nicht einmal wissen.
(angriffsbereit:)  Immerhin, wenn irgendeine grobkörnige Arbeit zu
verrichten ist, dann klingeln Sie und halsen sie jemand anders
auf--das ist eine der großen Tatsachen in Ihrem Dasein, nicht wahr?

(Marchbanks.)  Oh, quälen Sie mich nicht.  Die eine große Tatsache hier
ist jetzt, daß die wundervollen Finger Ihrer Frau mit Petroleum
beschmutzt werden, während Sie bequem hier sitzen und darüber Reden
halten--endlose Reden und Predigten--Worte--Worte--nichts als Worte!

(Burgess dem diese Erwiderung sehr gelegen kommt:)  Hört, hört!  Besser
konnte er's ihm nicht geben!  (Strahlend:)  Da haben Sie es, Jakob!
Ganz so ist es.  (Candida trat ein, in einer reinen Schürze, mit einer
geputzten und gefüllten, zum Anzünden fertigen Arbeitslampe.  Sie
stellt sie auf den Tisch neben Morell, damit er sie zur Hand hat.)

(Candida reibt ihre Fingerspitzen gegeneinander, mit einem leichten
Krausziehen ihrer Nase:)  Wenn Sie bei uns bleiben, Eugen, ich glaube,
dann werde ich Ihnen das Füllen der Lampe übertragen.

(Marchbanks.)  Ich werde überhaupt nur unter der Bedingung bleiben, daß
Sie mir alle grobe Arbeit übertragen.

(Candida.)  Das ist zwar sehr galant, aber ich möchte doch vorher
wissen, wie Sie sie machen.  (Wendet sich zu Morell:)  Jakob, du hast
in meiner Abwesenheit nicht gehörig nach dem Rechten gesehen.

(Morell.)  Was habe ich denn getan oder nicht getan, meine Liebe?

(Candida ernstlich ärgerlich:)  Meine eigene kleine
Lieblingsnagelbürste wurde zum Stiefelputzen verwendet.  (Ein
herzzerreißender Klagelaut entringt sich Marchbanks' Brust.  Burgess
sieht sich erstaunt um, Candida eilt ans Sofa:)  Was ist los?  Sind Sie
krank, Eugen?

(Marchbanks.)  Nein, nicht krank.  Nur Jammer erfaßt mich, Jammer,
Jammer!  (Er schlägt die Hände vor das Gesicht.)

(Burgess erschreckt:)  Was haben Sie, Herr Marchbanks?  Oh, das ist
schlimm in Ihrem Alter; Sie müssen trachten, sich das Trinken nach und
nach abzugewöhnen.

(Candida beruhigt:)  Unsinn, Papa.  Das ist nur poetischer Jammer.
Nicht wahr, Eugen?  (Streichelt ihn.)

(Burgess verlegen:)  Oh, poetischen Jammer hat er,--verzeihen Sie, das
wußte ich nicht.  (Er wendet sich wieder nach dem Feuer, seine
Unüberlegtheit bereuend.)

(Candida.)  Was ist's denn, Eugen?  Wegen der Nagelbürste?  (Er
schaudert.)  Es ist ja nichts dabei, lassen Sie's gut sein.  (Sie setzt
sich neben ihn.)  Wollen Sie mir eine hübsche neue schenken, mit
Elfenbeinrücken und eingelegtem Perlmutter?

(Marchbanks sanft und melodisch, aber traurig und schmachtend:)  Nein,
keine Nagelbürste, aber ein Boot, eine kleine Schaluppe, um darin
fortzusegeln, weit fort von der Welt, dorthin, wo Marmorböden vom
Regen gewaschen und von der Sonne getrocknet werden, und wo der
Südwind die wundervoll grünen und purpurnen Teppiche fegt.  Oder einen
Wagen möchte ich Ihnen schenken; uns hinaufzutragen in den Himmel, wo
die Lampen Sterne sind und nicht täglich mit Petroleum gefüllt werden
müssen.

(Morell barsch:)  Und wo es nichts anderes zu tun gibt, als faul,
selbstsüchtig und unnütz zu sein.

(Candida unangenehm berührt:)  Oh, Jakob, wie kannst du nur alles so
verderben!

(Marchbanks feurig:)  Ja: faul, selbstsüchtig und unnütz, das heißt
schön, frei und glücklich sein.  Hat das nicht jeder Mann mit seiner
ganzen Seele für die Frau gewünscht, die er liebte?  Das ist auch mein
Ideal.  Was ist das Ihre und das all der entsetzlichen Menschen, die
in diesen fürchterlichen Häuserreihen wohnen?  Predigten und
Schuhbürsten!  Für Sie die Predigten und für Ihre Frau die Bürste!

(Candida drollig:)  Er putzt die Schuhe, Eugen.  Morgen werden Sie sie
putzen müssen, weil Sie das von ihm gesagt haben.

(Marchbanks.)  Oh, sprechen Sie nicht von Schuhen; Ihre Füße würden
auch in einer Wildnis schön bleiben.

(Candida.)  Meine Füße würden auf der Hackneystraße ohne Schuhe nicht
sehr schön aussehn.

(Burgess daran Anstoß nehmend:)  Geh, Candy, sei nicht ordinär.  Herr
Marchbanks ist daran nicht gewöhnt.  Du hast ihm schon wieder Jammer
eingeflößt,--ich meine poetischen Jammer.  (Morell schweigt, scheinbar
ist er mit seinen Briefen beschäftigt.  Tatsächlich ist er aber über
seine neue und beunruhigende Erfahrung in sorgenvolle Gedanken
vertieft: je sicherer er seiner moralischen Ausfälle ist, desto
sicherer und wirkungsvoller pariert sie Eugen.  Es schmerzt Morell
sehr, daß er einen Menschen zu fürchten anfängt, den er nicht achten
kann.  Fräulein Garnett kommt mit einem Telegramm herein.)

(Proserpina händigt das Telegramm Morell ein:)  Rückantwort bezahlt,
der Bote wartet.  (Zu Candida, während sie zu ihrer Maschine geht und
sich setzt:)  Marie wartet auf Sie in der Küche, Frau Morell.  (Candida
erhebt sich:)  Die Zwiebeln sind gekommen.

(Marchbanks krampfhaft:)  Zwiebeln!?

(Candida.)  Ja, Zwiebeln, und nicht einmal spanische! garstige, kleine
rote Zwiebeln!  Sie können mir helfen, sie zu zerschneiden; kommen Sie.
(Sie nimmt ihn am Handgelenk und läuft, ihn nachziehend, hinaus.
Burgess erhebt sich verblüfft und starrt ihnen, auf dem Kaminteppich
stehend, nach.)

(Burgess.)  Candy sollte den Neffen eines Pairs nicht so behandeln.
Das geht doch zu weit, Jakob.  Hat er öfters solche komischen Anfälle?

(Morell kurz, ein Telegramm schreibend:)  Ich weiß nicht.

(Burgess sentimental:)  Er spricht sehr nett.  Ich habe immer etwas
Sinn für Poesie gehabt.  Candy schlägt mir darin nach.  Ich mußte ihr
immer Märchen erzählen, als sie noch ein so kleines Mädchen war.  (Er
hält die Hand ungefähr zwei Fuß hoch über den Fußboden.)

(Morell beschäftigt:)  So, wirklich?  (Er löscht das Telegramm ab und
geht hinaus.)

(Proserpina.)  Haben Sie die Märchen, die Sie Ihrer Tochter erzählten,
selbst erfunden?

(Burgess würdigt sie keiner Antwort und nimmt vor dem Kamin die
Stellung tiefster Verachtung gegen sie ein.)

(Proserpina sehr ruhig:)  Ich hätte nie gedacht, daß Sie derlei könnten.
Übrigens möchte ich Sie doch warnen, da Sie so großes Interesse
an Herrn Marchbanks nehmen.  Er ist verrückt.

(Burgess.)  Verrückt!  Was?  Der auch?

(Proserpina.)  Total verrückt!  Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie
sehr er mich vorhin erschreckte--das kann ich Ihnen versichern,
gerade bevor Sie kamen.--Haben Sie das merkwürdige Zeug, das er sprach,
nicht gehört?

(Burgess.)  So, das ist also der poetische Jammer?  Potztausend, es ist
mir selbst schon ein oder zweimal aufgefallen, daß es nicht ganz
richtig mit ihm ist.  (Er durchschreitet das Zimmer und hebt seine
Stimme, während er geht:)  Na, das ist ein hübsches Irrenhaus für einen
Menschen, der außer Ihnen niemanden hat, sich um ihn zu kümmern.

(Proserpina während er bei ihr vorbeikommt:)  Ja, wie fürchterlich wäre
es, wenn Ihnen da etwas zustieße.

(Burgess hochmütig:)  Erlauben Sie sich keine Bemerkungen!  Sagen Sie
Ihrem Prinzipal, daß ich in den Garten gegangen bin, meine Pfeife zu
rauchen.

(Proserpina spottend:)  Oh!--(Ehe Burgess erwidern kann, kehrt Morell
zurück.)

(Burgess gefühlvoll:)  Ich gehe in den Garten, meine Pfeife zu rauchen,
Jakob.

(Morell kurz angebunden:)  Schon gut, schon gut!  (Burgess geht
würdevoll hinaus, wie ein müder alter Mann.  Morell steht vor dem
Tisch, wendet seine Papiere um und spricht zu Proserpina hinüber, halb
humorvoll, halb geistesabwesend.)

(Morell.)  Nun, Prossi, warum haben Sie meinen Schwiegervater mit
Schimpfnamen belegt?

(Proserpina wird feuerrot und sieht rasch zu ihm auf, halb
vorwurfsvoll, halb erschrocken:)  Ich--(Sie bricht in Tränen aus.)

(Morell lehnt sich mit leisem Humor zu ihr hinüber und tröstet sie:)
Oh, lassen Sie, lassen Sie nur! es ist ja nichts dabei: er ist ein
alter Schafskopf, nicht wahr?  (Mit einem krampfhaften Schluchzen
stürzt sie nach der Tür und verschwindet, die Tür zuschlagend.  Morell
schüttelt resigniert den Kopf, seufzt und geht müde an seinen Stuhl,
wo er sich an die Arbeit setzt.  Er sieht alt und vergrämt aus.
Candida kommt herein; sie hat ihre häusliche Arbeit beendet und die
Schürze abgenommen.  Sie bemerkt sofort Morells niedergeschlagenes
Aussehen, setzt sich ruhig auf den Besuchsstuhl und betrachtet ihn
aufmerksam.  Sie schweigt.)

(Morell sieht auf, die Feder einen Moment absetzend:)  Nun, wo ist
Eugen?

(Candida.)  Er wäscht sich die Hände in der Waschküche--unter der
Wasserleitung.  Er wird ein ausgezeichneter Koch werden, wenn er nur
erst seine Furcht vor Marie überwunden hat.

(Morell kurz:)  Gewiß, zweifellos.  (Er fängt wieder zu schreiben an.)

(Candida geht näher und legt ihre Hände sanft auf die seinen, um ihn
aufzuhalten, und sagt:)  Komm zu mir, mein Lieber.  Laß dich anschauen.
(Er legt seine Feder weg und stellt sich ihr zur Verfügung; sie laßt
ihn aufstehen, zieht ihn ein wenig vom Tisch fort und betrachtet ihn
mit kritischen Blicken.)  Wende dein Gesicht einmal gegen das Licht.
(Sie stellt ihn mit dem Gesicht gegen das Fenster.)  Mein alter Junge
sieht nicht gut aus,--hat er sich überanstrengt?

(Morell.)  Nicht mehr als gewöhnlich.

(Candida.)  Er sieht sehr bleich und grau, runzelig und alt aus.
(Seine Melancholie nimmt zu und Candida faßt sie geflissentlich lustig
an.)  Komm her.  (Sie zieht ihn zum Lehnstuhl:)  Du hast für heute genug
geschrieben.  Überlaß Prossi alles Weitere, und wir wollen ein
bißchen plaudern.

(Morell.)  Aber--

(Candida nachdrücklich:)  Ja, du mußt mit mir plaudern.  (Sie zwingt
ihn, Platz zu nehmen, und setzt sich auf den Teppich zu seinen Füßen.)
Nun (seine Hände streichelnd:)  fängst du schon an, besser auszusehen.
Warum gibst du alle diese ermüdenden Extraarbeiten nicht auf?  Jeden
Abend gehst du aus, um zu predigen und zu reden.  Freilich, was du
sagst, ist alles schön und gut; aber es nützt ja nichts: sie geben
nicht das geringste darauf.  Sie sind natürlich deiner Ansicht--aber
was hat man davon, wenn Leute mit einem einverstanden sind und dann
hingehen und das Gegenteil von allem tun, sobald man den Rücken kehrt?
Denke nur an unsere Gemeinde in St. Dominik?  Warum wollen sie dich
jeden Sonntag über Christentum reden hören?  Nur weil sie mit ihren
Geschäften und Geldangelegenheiten sechs Tage lang so sehr beschäftigt
waren, daß sie am siebenten Tage nichts davon hören mögen.  Da wollen
sie ruhen und sich erbauen, damit sie frisch zurückkehren und besser
als je dem Gelde nachjagen können.  Du hilfst ihnen nur noch dabei,
anstatt sie daran zu hindern.

(Morell mit energischem Ernst:)  Du weißt sehr gut, Candida, daß ich
sie deswegen oft tüchtig ausschelte.  Aber wenn ihr Kirchgang ihnen
nichts anderes bedeutet als Ruhe und Zerstreuung, warum wählen sie
dann nichts Lustigeres, Angenehmeres?  Es muß doch etwas Gutes in der
Tatsache liegen, daß sie die Kirche am Sonntag schlimmeren Orten
vorziehen.

(Candida.)  Oh, die schlimmen Orte sind eben nicht offen, und selbst
wenn sie es wären, sie würden sich nicht trauen hinzugehen, aus Angst
gesehn zu werden.  Überdies, lieber Jakob, predigst du so
wundervoll, daß es für sie so gut wie ein Schauspiel ist.  Warum,
glaubst du, sind die Frauen alle so begeistert?

(Morell verletzt:)  Candida!

(Candida.)  Oh, ich weiß.  Du Ahnungsloser, du glaubst, dein
Sozialismus und deine Religion machen es,--doch wenn's bloß das wäre,
dann würden sie tun, was du ihnen sagst, anstatt nur hinzugehen und
dich anzustarren;--sie haben alle Prossis Leiden.

(Morell.)  Prossis Leiden?  Was meinst du damit, Candida?

(Candida.)  Ja, Prossis und das all der anderen Sekretärinnen, die du
hattest.  Warum, meinst du, läßt sich Prossi herbei, abzuwaschen,
Kartoffeln zu schälen und sich auf alle mögliche Art zu erniedrigen,
da sie bei dir doch sechs Schillinge in der Woche weniger verdient,
als sie in einem Bureau in der City bekäme?  Sie ist verliebt in dich,
das ist der Grund,--sie sind alle in dich verliebt.  Und du bist ins
Predigen verliebt, weil du das so wundervoll kannst.  Und du glaubst,
es sei alles Enthusiasmus für das Himmelreich auf Erden--und sie
glauben es auch--o du lieber Dummkopf, du!

(Morell.)  Candida, was ist das für ein schrecklicher, seelenmordender
Zynismus?  Scherzest du oder--ist es möglich--bist du eifersüchtig?

(Candida seltsam gedankenvoll:)  Ja, manchmal bin ich etwas
eifersüchtig.

(Morell ungläubig:)  Auf Prossi?

(Candida lachend:)  Nein, nein, nein.  Nicht eifersüchtig a u f
jemanden.  Eifersüchtig f ü r jemanden, der n i c h t so geliebt wird,
wie er sollte.

(Morell.)  Bin ich das?

(Candida.)  Du?  Nein.  Du bist verwöhnt durch Liebe und Verehrung,
mehr, als für dich gut ist.--Nein, ich meine Eugen.

(Morell betroffen:)  Eugen?

(Candida.)  Es scheint mir ungerecht, daß du alle Liebe besitzen sollst
und er keine, obgleich er sie so viel nötiger hat als du.  (Eine
krampfhafte Bewegung schüttelt ihn gegen seinen Willen.)  Was ist dir,
quäle ich dich?

(Morell rasch:)  Durchaus nicht.  (Er sieht sie mit unruhiger Spannung
an.)  Du weißt, daß ich dir blindlings vertraue, Candida.

(Candida.)  Du eitler Mann.  Bist du deiner Unwiderstehlichkeit so
sicher?

(Morell.)  Candida, du verletzest mich.  Ich habe an
Unwiderstehlichkeit nie gedacht.  Deiner Frömmigkeit, deiner Reinheit
vertraue ich.

(Candida.)  Was für häßliche, ungemütliche Dinge du mir da sagst,--oh,
du bist wirklich ein Pastor, Jakob, ein Pastor durch und durch!

(Morell ins Herz getroffen, sich von ihr abwendend:)  Das sagt Eugen
auch.

(Candida neigt sich mit lebhaftem Interesse zu ihm, die Arme auf
seinen Knien:)  Eugen hat immer recht.  Er ist ein wundervoller Junge,
ich habe ihn lieber und lieber gewonnen während der ganzen Zeit, wo
ich fort war.  Weißt du, Jakob, daß er, obwohl er selbst nicht die
leiseste Ahnung davon hat, im Begriff steht, sich wahnsinnig in mich
zu verlieben?

(Morell grimmig:)  Oh, er selbst hat nicht die leiseste Ahnung davon,
wirklich?

(Candida.)   Nicht die geringste.  (Sie nimmt ihre Arme von seinen Knien
und wendet sich gedankenvoll ab, wobei sie eine bequeme Stellung
einnimmt, die Hände im Schoß.)   Eines Tages wird er es wissen,--wenn er
erwachsen und erfahren sein wird wie du--da wird er erkannt haben, daß
ich es wissen mußte!--Ich bin neugierig, was er dann von mir denken
wird.

(Morell.)   Nichts Böses, Candida.  Ich hoffe und vertraue, nichts Böses.

(Candida zweifelnd:)  Das wird davon abhängen...

(Morell erschreckt:)  Abhängen!

(Candida ihn ansehend:)  Ja, es wird davon abhängen, was er bis dahin
erleben wird.  Er sieht sie verständnislos an.  Begreifst du das
nicht?  Es hängt ganz davon ab, wie und durch wen ihm bewußt wird, was
die Liebe eigentlich ist.  Ich meine, es kommt auf die Frau an, die
ihn die Liebe lehren wird.
                
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