(Morell ganz verwirrt:) Nein,--ja,--ich weiß nicht, was du meinst.
(Candida erklärend:) Wenn eine gute Frau sie ihn lehrt, dann wird
alles gut und schön sein, dann wird er mir verzeihen.
(Morell.) Verzeihen?!
(Candida fortfahrend:) Aber gesetzt den Fall, daß eine schlechte Frau
sie ihn lehrt, wie dies vielen Männern, ganz besonders dichterisch
veranlagten, geschieht, die alle Frauen für Engel halten,--gesetzt den
Fall, sage ich, daß er den Wert der Liebe erst dann entdeckt, wenn er
sie fortgeworfen und sich in seiner Unwissenheit selbst erniedrigt hat,
--glaubst du, daß er mir dann auch verzeihen wird?
(Morell.) Dir verzeihen? Weswegen?
(Candida bemerkt, wie beschränkt er ist, fährt etwas enttäuscht, aber
sanft fort:) Verstehst du das nicht? (Er schüttelt den Kopf; sie
wendet sich wieder zu ihm, um es ihm mit zartester Vertraulichkeit zu
erklären.) Ich meine: wird er mir verzeihen, daß ich selbst ihn die
Liebe nicht gelehrt, sondern ihn schlechten Frauen überlassen habe?
meiner Frömmigkeit--meiner Reinheit wegen, wie du es nennst! Oh,
Jakob, wie wenig du mich doch verstehst, daß du nur immer von deinem
Vertrauen in meine Frömmigkeit und Reinheit sprichst. Ich würde sie
beide dem armen Eugen so gerne geben, wie einem frierenden Bettler
meinen Schal, wenn nichts anderes mich davon abhielte. Vertraue auf
meine Liebe zu dir; denn wenn die nicht wäre, aus deinen Predigten
würde ich mir sehr wenig machen--das sind bloß leere Phrasen, mit
denen du andere und dich selbst jeden Tag belügst. (Sie ist im
Begriff aufzustehen.)
(Morell.) Seine Worte!
(Candida schnell innehaltend, indem sie aufsteht:) Wessen Worte?
(Morell.) Eugens!
(Candida entzückt:) Er hat immer recht. Er versteht dich, er versteht
mich, er versteht Prossi; und du, Jakob, du verstehst nichts. (Sie
lacht und küßt ihn, um ihn zu trösten; er weicht wie gestochen zurück
und springt auf.)
(Morell.) Wie kannst du mich küssen, während du--oh, Candida! (Mit
Schmerz in der Stimme:) Ich hätte vorgezogen, daß du mir einen
Widerhaken ins Herz gestoßen hättest, statt mir diesen Kuß zu geben.
(Candida erhebt sich beunruhigt:) Mein Lieber, was ist denn mit dir?
(Morell schüttelt sie wild ab:) Berühre mich nicht!
(Candida erstaunt:) Jakob! Sie werden durch den Eintritt Marchbanks'
und Burgess' unterbrochen, der in der Nähe der Tür stehen bleibt und
sie anstarrt, während Eugen sich zwischen sie nach vorwärts drängt.
(Marchbanks.) Ist etwas vorgefallen?
(Morell totenbleich, mit eiserner Selbstbeherrschung:) Nichts, als daß
entweder Sie heute morgen recht hatten, oder daß Candida verrückt ist!
(Burgess laut protestierend:) Was? Candy auch verrückt? Das ist
zuviel! (Er durchschreitet das Zimmer bis zum Kamin, protestiert
während des Gehens und klopft dort seine Pfeifenasche aus. Morell
setzt sich verzweifelt nieder, lehnt sich nach vorne, um sein Gesicht
zu verbergen, und verschlingt seine Finger krampfhaft, damit sie ruhig
bleiben.)
(Candida zu Morell, erleichtert und lachend:) Oh, du bist nur
verletzt--ist das alles? Wie konventionell ihr unkonventionellen
Leute doch alle seid!
(Burgess.) Benimm dich anständig, Candy. Was wird Herr Marchbanks von
dir denken?
(Candida.) Das kommt davon, weil Jakob mir immer predigt, nur mir
selbst Rechenschaft abzulegen und nie darauf zu achten, was andere
Leute über mich denken könnten. Das ist außerordentlich schön und gut,
solange ich derselben Meinung bin wie er. Aber jetzt--weil ich
gerade etwas anderer Meinung war jetzt schau ihn dir an, schau nur!
(Sie weist auf Morell, höchst belustigt. Eugen beobachtet ihn und
preßt seine Hand heftig ans Herz, als wenn ihn irgendein Schmerz
getroffen hätte; er setzt sich auf das Sofa wie ein Mensch, der einer
Tragödie beiwohnt. Burgess auf dem Kaminteppich:) Sie hat recht,
Jakob, Sie sehen wirklich nicht so würdig aus wie gewöhnlich.
(Morell mit einem Lachen, das ein halbes Schluchzen ist:) Das kann
schon sein, verzeiht mir alle,--ich wußte nicht, daß ich eine Störung
verursache. (Sich zusammenraffend:) Es ist schon gut, schon gut,
schon gut. (Er geht zurück nach seinem Platz am Tisch und setzt sich,
um an seinen Papieren wieder mit entschlossener Heiterkeit
weiterzuarbeiten.)
(Candida geht nach dem Sofa und setzt sich neben Marchbanks, noch in
heiterster Stimmung:) Nun, Eugen, warum sind Sie traurig? Haben Sie
vom Zwiebelschälen geweint? (Morell kann sich nicht enthalten, sie zu
beobachten.)
(Marchbanks beiseite zu ihr:) Ihre Grausamkeit ist es, die mich
traurig macht.--Ich hasse Grausamkeit. Es ist entsetzlich,
mitanzusehen, wie ein Mensch einem andern weh tut.
(Candida ihn streichelnd, ironisch:) Armer Junge, war ich grausam?
Habe ich ihn kleine, rote, häßliche Zwiebel schälen lassen?
(Marchbanks ernst:) Oh, halten Sie ein, halten Sie ein: ich meine
nicht mich! Er hat Ihretwegen furchtbar gelitten. Ich fühle seinen
Schmerz in meinem eigenen Herzen. Ich weiß, daß Sie nicht schuld
daran sind,--es ist etwas geschehen, was geschehen mußte; aber nehmen
Sie es nicht so leicht. Mich schaudert, wenn Sie ihn quälen und dabei
lachen.
(Candida ungläubig:) Ich Jakob quälen?! Unsinn, Eugen; wie Sie
übertreiben! Torheit! (Sie blickt hinüber zu Jakob, der seine
Schreiberei hastig fortsetzt; sie gebt zu ihm und steht hinter seinem
Stuhl, sich über ihn beugend.) Arbeite nicht länger, mein Lieber, komm
und plaudere mit uns.
(Morell liebevoll, aber bitter:) Ach nein: ich kann nicht plaudern,
ich kann nur predigen.
(Candida ihn streichelnd:) Nun, dann komm und predige!
(Burgess heftig widersprechend:) Ach nein, Candy! zum Henker mit dem
Predigen! (Alexander Mill kommt herein und sieht ängstlich und
wichtig aus.)
(Mill beeilt sich, Candida zu begrüßen:) Wie geht es Ihnen, Frau
Morell? Wie freue ich mich, daß Sie wieder zurück sind.
(Candida.) Ich danke Ihnen, Herr Mill. Sie kennen Eugen, nicht wahr?
(Mill.) O ja! Wie geht es Ihnen, Marchbanks?
(Marchbanks.) Danke, gut!
(Mill zu Morell:) Ich komme eben aus der Gilde von Sankt Matthäus.
Die Leute sind furchtbar bestürzt über Ihr Telegramm. Es ist doch
hoffentlich nichts geschehen?
(Candida.) Was hast du denn telegraphiert, Jakob?
(Mill zu Candida:) Es war vereinbart, daß er heute abend dort sprechen
sollte, sie haben den großen Saal in der Marestraße gemietet und eine
Menge Geld für Plakate ausgegeben. Der Herr Pastor telegraphierte nun,
daß er nicht kommen könnte! Es traf sie wie ein Blitz aus heiterem
Himmel.
(Candida überrascht, beginnt zu wittern, daß etwas nicht in Ordnung
ist:) Eine Gelegenheit, öffentlich zu sprechen, hast du ausgeschlagen?
(Burgess.) Zum erstenmal in seinem Leben, das möchte ich wetten;
--nicht wahr, Candy?
(Mill zu Morell:) Man hat beschlossen, Ihnen ein dringendes Telegramm
zu schicken, mit der Bitte, Ihren Entschluß zu ändern. Haben Sie es
erhalten?
(Morell mit mühsam verhaltener Ungeduld:) Ja, ja, ich bekam es.
(Mill.) Es war mit bezahlter Rückantwort.
(Morell.) Ja, ich weiß. Ich habe es beantwortet. Ich kann nicht
kommen.
(Candida.) Aber warum nicht, Jakob?
(Morell beinahe heftig:) Weil ich nicht mag! Diese Leute vergessen,
daß ich auch ein Mensch bin; sie halten mich für eine Redemaschine,
die man jeden Abend zu seinem Vergnügen aufziehen kann. Darf ich
nicht auch einmal einen Abend zu Hause haben, mit meiner Frau und
meinen Freunden? (Sie sind alle über diesen Ausbruch erstaunt mit
Ausnahme von Eugen,--sein Ausdruck bleibt unverändert.)
(Candida.) Oh, Jakob, du weißt es selbst: morgen wirst du dann
Gewissensbisse haben, und ich werde darunter leiden müssen.
(Mill eingeschüchtert, aber dringend:) Ich weiß natürlich, daß diese
Menschen die unvernünftigsten Anforderungen an Sie stellen; aber sie
haben überallhin um einen anderen Redner telegraphiert und können
niemanden mehr bekommen als den Präsidenten des Agnostikerbundes.
(Morell rasch:) Nun, das ist ein ausgezeichneter Mann,--was wollen sie
denn noch mehr?
(Mill.) Aber er besteht immer so fest auf der Scheidung des
Sozialismus vom Christentum. Er wird all das Gute, das wir gestiftet
haben, zunichte machen,--natürlich, Sie müssen ja am besten wissen,
aber...
(Er zögert.)
(Candida schmeichelnd:) O bitte, geh' doch hin, Jakob. Wir kommen
alle mit.
(Burgess brummend:) Schau, Candy, laß uns lieber gemütlich zu Hause am
Kamin sitzen. Er braucht ja nicht länger als zwei Stunden
wegzubleiben.
(Candida.) Du wirst dich in der Versammlung genau so behaglich fühlen.
Wir werden alle auf dem Podium sitzen und wichtige Leute sein.
(Marchbanks entsetzt:) Oh, bitte, nicht auf dem Podium; nein! Jeder
wird uns anstarren,--das hielte ich nicht aus. Ich werde im
Hintergrund des Saales bleiben.
(Candida.) Fürchten Sie sich nicht. Man wird viel zu sehr damit
beschäftigt sein, Jakob anzustarren als daß man Sie bemerkte.
(Morell wendet den Kopf und sieht Candida vielsagend über die Schulter
an:) Prossis Leiden, Candida,--nicht?
(Candida lustig:) Jawohl.
(Burgess neugierig:) Prossis Leiden? Was reden Sie da, Jakob?
(Morell beachtet ihn nicht, erhebt sich, geht nach der Tür, öffnet und
ruft in befehlendem Ton hinaus:) Fräulein Garnett!
(Proserpina aus der Entfernung:) Ja, Herr Pastor, ich komme schon.
(Sie warten alle mit Ausnahme von Burgess, der verstohlen zu Mill geht
und ihn beiseite zieht.)
(Burgess.) Hören Sie, Herr Mill: worin besteht Prossis Leiden? Was
fehlt ihr?
(Mill vertraulich:) Ja, ich weiß es nicht genau; aber sie sprach recht
seltsame Dinge heute früh;--ich fürchte, es ist manchmal nicht ganz
richtig mit ihr.
(Burgess überwältigt:) Nein,--vier in demselben Haus! Es muß
ansteckend sein. (Er geht zurück an den Kamin, ganz in Gedanken
versunken über die Veränderlichkeit des menschlichen Verstandes in der
Umgebung eines Geistlichen.)
(Proserpina erscheint auf der Schwelle:) Was wünschen Sie, Herr Pastor?
(Morell.) Telegraphieren Sie nach der Gilde von Sankt Matthäus, daß
ich kommen werde.
(Proserpina überrascht:) Werden Sie denn nicht erwartet?
(Morell gebieterisch:) Tun Sie, wie ich Ihnen gesagt habe.
(Proserpina setzt sich erschrocken an die Schreibmaschine und gehorcht.)
(Morell geht hinüber zu Burgess. Candida beobachtet seine Bewegungen
die ganze Zeit über mit wachsender Verwunderung und Besorgnis.)
Burgess, Sie möchten lieber nicht mitkommen?
(Burgess sich entschuldigend:) Oh, so dürfen Sie das nicht
auffassen--ich meine nur, wissen Sie--weil heute nicht Sonntag ist.
(Morell.) Das ist schade, ich dachte, Sie würden gerne mit dem
Vorsitzenden bekannt werden. Er ist im Provinzialarbeitsausschuß und
hat einigen Einfluß bei Abschlüssen von Lieferungen. (Burgess wird
mit einem Male lebendig; Morell, der das erwartet hat, hält einen
Augenblick inne und sagt:) Sie wollen also doch mitkommen?
(Burgess mit Enthusiasmus:) Das will ich meinen,--ob ich mitkomme,
Jakob! Es ist ja stets ein Genuß, Sie predigen zu hören!
(Morell wendet sich zu Proserpina:) Ich werde Sie nötig haben, damit
Sie in der Versammlung einige Notizen machen können, Fräulein Garnett,
falls Sie nicht schon vergeben sind. (Sie nickt, aus Angst, sprechen
zu müssen.) Sie kommen doch auch mit, Lexi?
(Mill.) Selbstverständlich.
(Candida.) Wir kommen alle mit, Jakob.
(Morell.) Nein! Du kommst nicht mit, und Eugen kommt nicht mit. Du
wirst zu Hause bleiben und dich mit ihm unterhalten, zur Feier deiner
Rückkehr. (Eugen erhebt sich atemlos.)
(Candida.) Aber Jakob--
(Morell gebieterisch:) Ich bestehe darauf; Ihr habt beide keine Lust
zu kommen, weder er, noch du! (Candida will sich dagegen verwahren.)
Oh, denkt nicht an mich, ich werde auch ohne euch eine Menge Menschen
um mich versammelt sehen. Eure Stühle werden von unbekehrten Leuten
besetzt sein, die mich noch nie gehört haben.
(Candida beunruhigt:) Eugen, möchten Sie nicht hingehen?
(Morell.) Ich würde mich fürchten, mich vor Eugen hören zu lassen; er
ist Predigten gegenüber sehr kritisch. (Sieht ihn an.) Er weiß, daß
ich mich vor ihm fürchte, er hat mir's heute früh selbst gesagt. Nun
will ich ihm zeigen, wie sehr ich mich fürchte, indem ich ihn hier
allein in deiner Hut lasse, Candida.
(Marchbanks zu sich selbst, mit lebhaftem Gefühl:) Das ist tapfer; das
ist schön. (Er setzt sich wieder und hört mit geöffneten Lippen zu.)
(Candida mit ängstlicher Beunruhigung:) Aber, aber--Ist irgend etwas
geschehen, Jakob? (Sehr verwirrt:) Ich kann dich nicht begreifen.
(Morell.) Ah, ich dachte, ich sei es, der nichts begreifen kann, meine
Liebe. (Er schließt sie zärtlich in die Arme und küßt sie auf die
Stirn, dann blickt er ruhig auf Marchbanks.)
(Vorhang)
DRITTER AKT
(Es ist nach zehn Uhr abends; die Vorhänge sind zugezogen und die
Lampe brennt. Die Schreibmaschine steht in ihrem Kasten. Der breite
Tisch ist geordnet worden; alles zeugt davon, daß das Tagewerk
vollbracht ist. Candida und Marchbanks sitzen am Feuer; die Leselampe
steht auf dem Kaminsims über Marchbanks, der in dem kleinen Stuhl
sitzt und laut liest. Auf dem Teppich neben ihm liegt ein kleiner
Haufen von Manuskripten und ein paar Bände Gedichte. Candida sitzt im
großen Stuhl und hält einen leichten Schürhaken aus Messing aufrecht
in der Hand; sie sitzt zurückgelehnt und sieht versonnen auf die
funkelnde Messingspitze. Sie hat die Füße gegen das Feuer hin
ausgestreckt und läßt ihre Fersen auf dem Kamingitter ruhen, sich
ihrer Erscheinung und ihrer Umgebung tief unbewußt.)
(Marchbanks seine Vorlesung unterbrechend:) Jeder Dichter, der je
gelebt hat, hat aus diesem Gedanken ein Sonett gemacht. Er muß es, ob
er will oder nicht. (Er sieht Candida an, ob sie ihm zustimmt, und
bemerkt, daß sie auf den Schürhaken starrt.) Haben Sie nicht zugehört?
(Keine Antwort:) Frau Morell!
(Candida auffahrend.) Wie!?
(Marchbanks.) Haben Sie nicht zugehört?
(Candida schuldbewußt, mit übertriebener Höflichkeit:) O ja. Es ist
sehr hübsch. Fahren Sie fort, Eugen. Ich bin begierig, zu hören, was
dem Engel passiert ist.
(Marchbanks läßt das Manuskript aus der Hand auf den Boden fallen:)
Verzeihen Sie, daß ich Sie langweile!
(Candida.) Aber Sie langweilen mich durchaus nicht, wirklich nicht.
Bitte, fahren Sie fort--bitte, Eugen.
(Marchbanks.) Ich habe das Gedicht über den Engel vor einer
Viertelstunde beendet. Ich habe Ihnen seitdem schon verschiedenes
vorgelesen.
(Candida reuevoll:) Das tut mir wirklich leid, Eugen. Mir scheint,
der Schürhaken hat mich behext. (Sie legt ihn nieder.)
(Marchbanks.) Er hat mich fürchterlich gestört.
(Candida.) Warum haben Sie mir das nicht gesagt? Ich hätte ihn sofort
weggelegt.
(Marchbanks.) Ich fürchtete, Sie auch zu stören; er glich einer Waffe.
Wenn ich ein Held aus alten Tagen wäre, würde ich mein gezogenes
Schwert zwischen uns gelegt haben. Wenn Morell gekommen wäre, hätte
er geglaubt, daß Sie den Schürhaken ergriffen haben, weil kein Schwert
zwischen uns liegt.
(Candida verwundert:) Was? (Sie sieht ihn mit verwirrten Blicken an:)
Das kann ich nicht recht verstehen. Ihre Sonette haben mich so sehr
verwirrt! Warum sollte ein Schwert zwischen uns sein?
(Marchbanks ausweichend:) Oh, lassen wir das. (Er bückt sich, das
Manuskript aufzuheben.)
(Candida.) Legen Sie das wieder hin, Eugen. Mein Hunger nach Poesie
hat Grenzen, selbst nach Ihrer Poesie. Sie haben mir länger als zwei
Stunden vorgelesen--seit mein Mann fort ist--, ich möchte lieber
plaudern.
(Marchbanks erhebt sich, furchtsam:) Nein, ich darf nicht reden. (Er
sieht in seiner verlorenen Weise um sich und fügt plötzlich hinzu:)
Ich glaube, ich mache einen Spaziergang im Park. (Er will nach der
Tür.)
(Candida.) Unsinn! er ist längst geschlossen. Setzen Sie sich auf den
Kaminteppich und plaudern wir, wie Sie es gewöhnlich tun! Ich will
unterhalten werden,--wollen Sie nicht?
(Marchbanks halb entsetzt, halb hingerissen:) Ja.
(Candida.) Dann kommen Sie her. (Sie rückt ihren Stuhl etwas zurück,
um Platz zu machen; er zögert, dann kauert er sich schüchtern hin vor
den Kamin, das Gesicht nach oben gekehrt, wirft seinen Kopf zurück auf
ihre Knie und sieht zu ihr empor.)
(Marchbanks.) Oh, ich habe mich den ganzen Tag so unglücklich gefühlt,
weil ich getan habe, was recht war; und nun, wo ich unrecht tue, bin
ich so glücklich.
(Candida zart, belustigt über ihn:) Ja; ich bin überzeugt, nun fühlen
Sie sich wie ein großer, erwachsener, böser Verführer--ganz stolz auf
sich, nicht wahr?
(Marchbanks erhebt seinen Kopf rasch und wendet sich ein wenig, um sie
anzublicken:) Nehmen Sie sich in acht. Ich bin sogar um vieles
älter als Sie, Sie wissen es nur nicht. (Er wendet sich auf seinen
Knien ganz herum; mit gefalteten Händen und die Arme in ihrem Schoß,
spricht er mit wachsender Erregung--sein Blut fängt an zu wallen:)
Darf ich Ihnen ein paar schlimme Dinge sagen?
(Candida ohne die leiseste Angst oder Kälte und mit vollkommener
Achtung vor seiner Leidenschaft, aber mit einem Schimmer ihres
klugkerzigen mütterlichen Humors:) Nein. Aber Sie dürfen alles
sagen, was Sie wirklich und wahrhaftig fühlen, was es auch sei, alles!
Ich fürchte mich nicht, solange Ihr wirkliches "Selbst" zu mir
spricht und nicht eine bloße Pose--eine galante oder eine gottlose,
oder selbst eine dichterische Pose. Das verlange ich von Ihnen, bei
Ihrer Ehre und Wahrhaftigkeit!--Nun sagen Sie, was Sie wollen.
(Marchbanks der heiße Ausdruck verschwindet vollkommen von seinen
Lippen und Nasenflügeln, seine Augen flammen auf in begeistertem Feuer.)
Oh, jetzt kann ich nicht mehr alles sagen; denn alle Worte, die ich
weiß, gehören mehr oder weniger irgendeiner Pose an, alle--bis auf
eines.
(Candida.) Welches Wort ist das?
(Marchbanks sanft, sich dem melodischen Klang des Namens hingebend:)
"Candida, Candida, Candida, Candida, Candida"--das muß ich jetzt sagen,
da Sie mich bei meiner Ehre und Wahrhaftigkeit fragen, denn ich denke
und fühle niemals "Frau Morell", immer nur "Candida".
(Candida.) Selbstverständlich! Und was haben Sie Candida zu sagen?
(Marchbanks.) Nichts als Ihren Namen tausendmal zu wiederholen.
Fühlen Sie nicht, daß es jedesmal ein Gebet zu Ihnen ist?
(Candida.) Macht es Sie nicht glücklich, daß Sie beten können?
(Marchbanks.) Ja, sehr glücklich.
(Candida.) Nun, dieses Glück ist die Antwort auf Ihr Gebet.--Wünschen
Sie sich etwas Besseres?
(Marchbanks selig:) Nein, ich bin im Himmel, wo man wunschlos ist.
(Morell tritt ein; er bleibt an der Schwelle stehen und überschaut mit
einem Blick die ganze Szene.)
(Morell ernst und mit Selbstbeherrschung:) Hoffentlich störe ich nicht.
(Candida fährt heftig auf, aber ohne die leiseste Verlegenheit. Sie
lacht über sich selbst. Eugen, noch auf den Knien, schützt sieh vor
dem Fallen dadurch, daß er seine Hände auf den Stuhlsitz legt; Morell
mit offenem Munde anstarrend, bleibt er in dieser Stellung.)
(Candida im Aufstehen:) Oh, Jakob, wie du mich erschreckt hast; ich
war so mit Eugen beschäftigt, daß ich deinen Schlüssel nicht gehört
habe. Wie ist die Versammlung verlaufen? Hast du gut gesprochen?
(Morell.) Ich habe in meinem ganzen Leben nicht besser gesprochen.
(Candida.) Das ist ausgezeichnet! Wieviel ist eingegangen?
(Morell.) Ich vergaß zu fragen.
(Candida zu Eugen:) Er muß wundervoll gesprochen haben oder er hätte
das nicht vergessen. (Zu Morell:) Wo sind die andern?
(Morell.) Sie verließen den Saal lange ehe ich fortkommen konnte; ich
glaube, sie essen irgendwo zur Nacht.
(Candida in ihrer hausmütterlichen Art:) Oh, dann kann Marie zu Bette
gehn; ich will es ihr sagen. (Sie geht hinaus in die Küche.)
(Morell blickt strenge auf Marchbanks nieder:) Nun?
(Marchbanks läßt sich mit gekreuzten Beinen auf den Kaminteppich
nieder und fühlt sich Morell gegenüber ganz sicher, sogar voll
verschmitzten Humors:) Nun?
(Morell.) Haben Sie mir etwas zu sagen?
(Marchbanks.) Nur, daß ich mich hier heimlich zum Narren gemacht habe,
während Sie öffentlich dasselbe getan haben.
(Morell.) Ich glaube, kaum auf dieselbe Art.
(Marchbanks springt auf, eifrig:) Ganz genau auf dieselbe Art. Ich
habe eben ganz so wie Sie den braven Mann gespielt! ganz so wie Sie.
Als Sie Ihr Heldentum, mich hier mit Candida allein zu lassen,
begannen--
(Morell unwillkürlich:) Candida?
(Marchbanks.) Ja, so weit bin ich schon. Heldentum ist ansteckend,
ich bekam die Krankheit von Ihnen und habe mir geschworen, Candida in
Ihrer Abwesenheit nichts zu sagen, was ich nicht schon vor einem Monat
in Ihrer Gegenwart gesagt hätte.
(Morell.) Und haben Sie dieses Gelübde gehalten?
(Marchbanks setzt sich plötzlich in grotesker Weise in den Lehnstuhl:)
Ich bin bis vor etwa zehn Minuten dumm genug gewesen, es zu halten.
Bis dahin habe ich ihr verzweifelt vorgelesen, meine eigenen
Gedichte--und andere--um einer Unterhaltung auszuweichen. Ich sah
das Himmelstor offen und weigerte mich, einzutreten.... Sie können
sich nicht vorstellen, wie heldenhaft das war und wie ungemütlich....
Dann--
(Morell seine Ungeduld bezähmend:) Dann?
(Marchbanks geht prosaisch in eine ganz gewöhnliche Stellung im
Lehnstuhl über:) Dann konnte sie das Vorlesen nicht mehr vertragen.
(Morell.) Und da haben Sie sich dem Himmelstor schließlich genähert?
(Marchbanks.) Ja.
(Morell.) Und dann? (Wild:) Sprechen Sie, Mensch! Haben Sie denn
kein Gefühl für mich!
(Marchbanks sanft und melodisch:) Dann wurde sie ein Engel, und ein
Flammenschwert erschien, das mir jeden Zugang versperrte, so daß ich
nicht eintreten konnte und nun begriff, daß dieses Tor in Wahrheit das
Tor der Hölle war.
(Morell triumphierend:) Sie hat Sie zurückgestoßen!
(Marchbanks erhebt sich mit grimmigem Hohn:) Nein, Sie Narr! Wenn sie
das getan hätte, würde ich gar nicht gefühlt haben, daß ich schon im
Himmel war. Mich zurückgestoßen... glauben Sie, daß mich das gerettet
hätte?--Tugendhafte Entrüstung! Oh, Sie sind nicht wert, in einer
Welt mit ihr zu leben. (Er wendet sich verachtungsvoll von ihm ab
nach der anderen Seite des Zimmers.)
(Morell der ihn ruhig beobachtet hat, ohne seinen Platz zu wechseln:)
Glauben Sie, daß Sie dadurch an Wert gewinnen, wenn Sie mich
beschimpfen, Eugen?
(Marchbanks.) Hier endet der tausendunderste Text. Morell: ich halte
doch nicht viel von Ihrem Predigen. Ich glaube sogar, ich selbst
könnte das besser. Der Mann, den ich jetzt vor mir haben möchte, ist
der Mann, den Candida geheiratet hat.
(Morell.) Der Mann, den... meinen Sie mich?
(Marchbanks.) Ich meine nicht Hochwürden Jakob Mavor Morell, Moralist
und Schwätzer. Ich meine den wirklichen Menschen, den Hochwürden
Jakob irgendwo in seiner schwarzen Kutte versteckt haben muß, den Mann,
den Candida geliebt hat. Sie können die Liebe einer Frau wie Candida
nicht dadurch erreicht haben, daß Sie bloß Ihren Kragen hinten statt
vorne knöpfen.
(Morell kühn und standhaft:) Als Candida einwilligte, mich zu heiraten,
da war ich derselbe Moralist und Schwätzer, den Sie jetzt vor sich
sehen. Ich trug meinen schwarzen Rock, und meinen Kragen knöpfte ich
hinten statt vorne. Glauben Sie, daß sie mich mehr geliebt hätte,
wenn ich unaufrichtig in meinem Beruf gewesen wäre?
(Marchbanks auf dem Sofa, seine Knöchel umfassend:) Oh, sie hat Ihnen
vergeben, so wie sie mir vergibt, daß ich ein Feigling bin und ein
Schwächling, und was Sie einen kleinen winselnden Hund--und so
weiter--nennen. (Verträumt:) Eine Frau wie diese hat göttlichen
Einblick: sie liebt unsere Seele und nicht unsere Narrheiten und
Eitelkeiten und Illusionen, oder unsere Kragen und Röcke, oder die
andern Fetzen und Lappen, in die wir gehüllt sind. (Er denkt darüber
einen Augenblick nach, dann wendet er sich mit gespannter Erwartung um,
Morell zu befragen:) Was ich wissen möchte, ist, wie Sie an dem
Flammenschwerte, das mich zurückgeschreckt hat, vorbeigekommen sind!
(Morell bedeutungsvoll:) Vielleicht weil ich nicht nach zehn Minuten
unterbrochen wurde.
(Marchbanks verblüfft:) Was?
(Morell.) Der Mensch kann auf die höchsten Gipfel steigen; aber er
kann nicht lange dort verweilen.
(Marchbanks.) Das ist falsch. Dort kann er ewig verweilen! nur dort!
Anderswo findet er keine Ruhe und hat keinen Sinn für die stille
Schönheit des Lebens. Wo sollte ich meine seligsten Minuten verleben,
wenn nicht auf den Höhen?
(Morell.) In der Küche, Zwiebeln schneidend und Lampen füllend.
(Marchbanks.) Oder auf der Kanzel, Seelen scheuernd die aus billigem
Ton sind.
(Morell.) Ja, das auch! Dort habe ich meinen goldenen Augenblick
geerntet und mit ihm das Recht, um Candidas Liebe zu werben. Ich habe
mir diese Stunde nicht erborgt, noch habe ich sie benützt, um das
Glück eines andern zu stehlen.
(Marchbanks schreitet ziemlich angewidert dem Kamin zu:) Ich zweifle
nicht daran, daß Sie Ihre Verrichtungen so ehrenhaft erfüllt haben,
als ob Sie ein Pfund Käse abgewogen hätten. (Er hält vor dem Kamin
inne und fügt nachdenklich zu sich selbst, Morell den Rücken kehrend,
hinzu:) Ich konnte zu ihr nur als Bettler kommen.
(Morell auffabrend:) Als ein frierender Bettler, der sie um ihren
Schal bat, nicht wahr?
(Marchbanks wendet sich überrascht um:) Ich danke Ihnen, daß Sie sich
auf mein Gedicht beziehen. Ja, wenn Sie wollen: als ein frierender
Bettler, der sie um ihren Schal bat.
(Morell erregt:) Und sie verweigerte ihn. Soll ich Ihnen sagen, warum
sie ihn verweigert hat? Ich kann es Ihnen sagen, mit ihrer eigenen
Erlaubnis: weil...
(Marchbanks.) Sie hat ihn nicht verweigert!
(Morell.) Nicht?
(Marchbanks.) Sie bot mir alles, worum ich bat: ihren Schal, ihre
Flügel, den Sternenkranz aus ihrem Haar, die Lilien in ihrer Hand, den
aufgehenden Mond zu ihren Füßen.
(Morell ihn anpackend:) Heraus mit der Wahrheit, Mensch! Meine Frau
ist meine Frau: ich habe genug von Ihrem poetischen Flitterkram,--ich
weiß ganz gut, daß kein Gesetz Candida an mich binden würde, wenn ich
ihre Liebe an Sie verloren hätte!
(Marchbanks bizarr, ohne Furcht oder Widerstand:) Packen Sie mich nur
beim Kragen: sie wird ihn dann wieder in Ordnung bringen wie heute
morgen. (Mit stiller Begeisterung:) Ich werde wieder die Berührung
ihrer Hände fühlen.
(Morell:) Sie junger Fant, fühlen Sie nicht, wie gefährlich es ist,
mir das zu sagen! Oder (mit plötzilicher Befürchtung:) hat Sie irgend
etwas kühn gemacht?
(Marchbanks.) Ich fürchte mich jetzt nicht mehr! Ich habe Sie bisher
nie leiden mögen, deshalb bin ich bei Ihren Berührung zusammengezuckt.
Aber heute erkannte ich--als Candida Sie quälites--daß Sie sie lieben.
Seitdem bin ich Ihr Freund! Jetzt können sie mich erwürgen, wenn
Sie wollen!
(Morell ihn loslassend:) Eugen, wenn das keine herzlose Lüge ist--wenn
Sie noch einen Funken menschlichen Fühlens haben--so werden Sie mir
sagen, was im meiner Abwesenheit vergefallen ist!
(Marchbanks:) Was vorgefallen ist? Nun, das Flamenmenschwere...
(Morell stampft ungeduldig mit dem Fuße;),--also im ganz einfacher
Prosa: ich liebte sie so unendlich, daß ich nichts weiter wünschte als
das Glück, so lieben zu für ich und bevor ich--Zote fang vom höchsten
Grafen der Gefür herunterzutaumente--traten Sie ein.
(Morell (scowen leidend:)) Leidenschaftlichem immer nicht erduldig--
immer bleibt ihr noch die ehblines Zweifzig.
(Marchbanks.) Quall und wünsche jetzt nichts mehr als Candidas
Glück. (Mit leidenschaftlichem Gefühl:) Oh, Morell, geben wir sie
beide auf! Warum soll sie wählen müssen zwischen einem elenden,
nervösen kleinen Kranken, wie ich es bin, und einem starrköpfigen
Pfarrer wie Sie? Gehen wir auf Pilgerschaft, Sie nach Osten und ich
nach Westen, auf der Suche nach einem würdigeren Liebhaber, einem
schönen Erzengel mit purpurnen Flügeln.
(Morell.) Papperlapapp, dummes Zeug! Oh, wenn sie verrückt genug wäre,
mich Ihretwegen zu verlassen, wer sollte sie beschützen, wer sollte
ihr helfen, wer sollte für sie arbeiten, wer ihren Kindern ein Vater
sein! (Er setzt sich verstört auf das Sofa, seine Ellbogen auf die
Knie gestützt und den Kopf zwischen den geballten Fäusten.)
(Marchbanks schnappt wild mit den Fingern:) Sie stellt nicht solche
törichte Fragen: sie braucht jemanden, den sie schützen und behüten,
für den sie arbeiten kann, jemanden, der ihr Kinder anvertraut, um sie
zu beschützen, ihnen zu helfen und für sie zu arbeiten, einen
erwachsenen Menschen, der wieder wie ein kleines Kind geworden ist.
Oh, Sie Narr, Sie Narr, Sie dreifacher Narr! Ich bin der Mann, Morell,
ich bin der Mann! (Er tanzt aufgeregt herum und schreit:) Sie
verstehen nicht, was eine Frau ist,--schicken Sie nach ihr, Morell,
schicken Sie nach ihr und lassen Sie sie wählen zwischen--(Die Tür
öffnet sich und Candida tritt ein; er hält wie versteinert inne.)
(Candida erstaunt an der Schwelle:) Was um alles in der Welt machen
Sie da, Eugen?
(Marchbanks drollig:) Ihr Mann und ich haben ein Wettpredigen
veranstaltet, und er verliert dabei. (Candida sieht rasch nach Morell,
und als sie bemerkt, daß er traurig ist, eilt sie hin zu ihm und
spricht sehr ärgerlich mit heftigem Vorwurf zu Marchbanks.)
(Candida.) Sie haben ihn geärgert. Nein, das dulde ich nicht, Eugen,
hören Sie! (Sie legt ihre Hand auf Morells Schulter und vergißt in
ihrem Ärger ganz ihren weiblichen Takt:) Mein Liebling soll nicht
geärgert werden, ich werde ihn beschützen.
(Morell sich stolz erhebend:) Beschützen?
(Candida nicht auf ihn achtend, zu Eugen:) Was haben Sie ihm gesagt?
(Marchbanks erschreckt:) Nichts. Ich--
(Candida.) Eugen, nichts?
(Marchbanks jämmerlich:) Ich meine--ich--es tut mir sehr leid, ich
werde es nicht wieder tun, gewiß nicht, ich werde ihn in Ruhe lassen.
(Morell empört mit einer angreifenden Bewegung gegen Eugen:) Mich in
Ruhe lassen! Sie junger--
(Candida ihm ins Wort fallend:) Sch, nicht doch! laß mich mit ihm
reden, Jakob.
(Marchbanks.) Oh, Sie sind mir doch nicht böse?
(Candida strenge:) O ja, ich bin--sehr böse. Ich hätte nicht übel
Lust, Sie aus dem Hause zu jagen.
(Morell von Candidas Heftigkeit überrascht und durchaus nicht willens,
sich vor einem andern Mann durch sie retten zu lassen:) Sachte,
Candida, sachte. Ich kann mich schon selbst beschützen.
(Candida ihn streichelnd:) Ja, Lieber, natürlich kannst du das. Aber
man darf dich nicht ärgern und quälen.
(Marchbanks beinahe in Tränen, sich nach der Türe wendend:) Ich will
gehen.
(Candida.) Oh, Sie brauchen nicht zu gehen, so spät kann ich Sie nicht
fortschicken. (Heftig:) Aber schämen Sie sich, schämen Sie sich!
(Marchbanks verzweifelt:) Was habe ich denn getan?
(Candida.) Ich weiß, was Sie getan haben, so genau, als ob ich die
ganze Zeit hier gewesen wäre.--Oh, es war unwürdig. Sie sind wie ein
kleines Kind, Sie können Ihren Mund nicht halten.
(Marchbanks.) Ich würde lieber zehnfachen Tod erleiden, als Ihnen
einen Augenblick Kummer bereiten.
(Candida mit größter Geringschätzung gegen diese Kinderei:) Ihr Tod
würde mir viel nützen!
(Morell.) Liebste Candida, dieser Wortwechsel ist kaum am Platz. Es
handelt sich um eine Angelegenheit zwischen zwei Männern, und ich bin
dazu da, sie beizulegen.
(Candida.) Zwei Männer? Nennst du das einen Mann? (Zu Eugen:) Sie
schlimmer junge, Sie!
(Marchbanks wird wunderlich liebevoll und mutig, da er ausgezankt
wird:) Wenn ich mich auszanken lassen soll wie ein kleiner Junge, muß
ich mich auch wie ein kleiner Junge verteidigen dürfen. Er hat
angefangen und er ist größer als ich.
(Candida verliert ein wenig ihre Sicherheit, da sie Morells Würde
bedroht sieht:) Das kann nicht wahr sein. (Zu Morell:) Du hast doch
nicht angefangen, Jakob, nicht wahr, nein?
(Morell verachtungsvoll:) Nein.
(Marchbanks entrüstet:) Oh!
(Morell zu Eugen:) Sie haben angefangen,--heute früh. (Candida bringt
dies sofort in Zusammenhang mit der geheimnisvollen Bemerkung, die
Jakob nachmittag machte, als er ihr sagte, daß ihm Eugen am Morgen
etwas mitgeteilt habe. Sie sieht ihn mit raschem Verdachte forschend
an. Morell fährt fort mit dem Pathos der beleidigten Überlegenheit:)
Aber Ihre andere Bemerkung ist richtig. Ich bin gewiß der Größere von
uns beiden und, wie ich hoffe, Candida, auch der Stärkere! Es wäre
daher besser, du überließest die Sache mir.
(Candida ihn wieder besänftigend:) Ja, Lieber--aber (verwirrt:) ich
verstehe das nicht wegen heute morgen.
(Morell ein wenig auffahrend:) Das brauchst du auch nicht zu verstehen,
meine Liebe.
(Candida.) Aber, Jakob, ich--(Die Hausglocke läutet:) Oh, wie dumm.
Da kommen sie alle! (Sie geht hinaus, sie einzulassen.)
(Marchbanks läuft zu Morell:) Oh, Morell, ist das nicht schrecklich?
Sie ist böse auf uns, sie haßt mich,--was soll ich tun?
(Morell in seltsamer Verzweiflung, sich in die Haare fahrend:) Eugen,
es dreht sich mir alles im Kopf, ich werde gleich zu lachen anfangen.
(Er geht in der Mitte des Zimmers auf und ab.)
(Marchbanks folgt ihm ängstlich:) Nein, nein! Dann wird sie glauben,
ich hätte Sie hysterisch gemacht. Lachen Sie nicht! (Man hört
heftiges Stimmengewirr und Gelächter, das immer näher kommt.
Alexander Mill, dessen glänzende Augen und dessen ganzes Benehmen eine
ungewohnte angeregte Stimmung verraten, tritt mit Burgess ein, der
einen schmierigen und selbstgefälligen Eindruck macht, aber
vollständig Herr seiner Sinne ist. Fräulein Garnett folgt ihm mit
ihrem schönsten Hut und ihrer besten Jacke, aber obwohl ihre Augen
glänzender sind als früher, ist sie sichtlich in besorgter Stimmung.
Sie stellt sich mit dem Rücken gegen ihren Schreibmaschinentisch, mit
einer Hand sich darauf stützend, mit der anderen sich über die Stirne
fahrend, als ob sie etwas müde und schwindlig wäre. Marchbanks
verfällt wieder in Schüchternheit und schleicht weg in die Nähe des
Fensters, wo Morells Bücher sind.)
(Mill begeistert:) Herr Pastor, ich *muß* Ihnen gratulieren, (seine
Hand fassend:)--was für eine edle, herrliche, von Gott eingehauchte
Ansprache Sie gehalten haben! Sie haben sich selbst übertroffen.
(Burgess.) Ja, das haben Sie, Jakob. Ich bin bis zum letzten Worte
wach geblieben,--nicht wahr, Fräulein Garnett?
(Proserpina ungeduldig:) Oh, ich habe Sie nicht beachtet, ich habe
mich bemüht, Notizen zu machen. (Sie nimmt ihre Notizen heraus,
blickt auf ihr Stenogramm und fängt beinahe zu weinen an.)
(Morell.) Habe ich zu schnell gesprochen, Prossi?
(Proserpina.) Viel zu schnell.--Sie wissen, ich kann nicht mehr als
neunzig Worte in der Minute schreiben. (Sie macht ihren Gefühlen Luft,
indem sie ihr Notizbuch ärgerlich neben die Maschine wirft, wo sie es
am nächsten Morgen bereit haben will.)
(Morell besänftigend:) Nun, nun, das macht ja nichts. Habt ihr alle
schon zur Nacht gegessen?
(Mill.) Herr Burgess war so liebenswürdig, uns in's Belgrave
Restaurant zu einem geradezu glänzenden Abendessen einzuladen.
(Burgess mit überschwenglicher Großmut:) O bitte, bitte, Herr Mill.
(Bescheiden:) Sie waren mir bei meinem bescheidenen Feste herzlich
willkommen.
(Proserpina.) Wir haben Champagner getrunken! Ich hatte noch niemals
welchen gekostet. Ich bin ganz schwindlig.
(Morell überrascht:) Ein Champagnersouper! Das war sehr hübsch von
Ihnen. Ist meine Beredsamkeit schuld an dieser Verschwendung?
(Mill mit Pathos:) Ihre Beredsamkeit und Herrn Burgess' Herzensgüte.
(Mit erneutem Gefühlsausbruch:) Was für ein herrlicher Mensch der
Vorsitzende war, Herr Morell; er hat auch mit uns gespeist.
(Morell bedeutungsvoll Burgess anblickend:) So, so, der Vorsitzende!
--*jetzt* verstehe ich! (Burgess verbirgt hinter einem Hüsteln ein
Lächeln der Zufriedenheit über seine diplomatische Geschicklichkeit
und setzt sich an den Kamin. Mill verschränkt die Arme und lehnt sich
neben das Büchergestell in einer Stellung, die seine Begeisterung zum
Ausdruck bringt. Candida kommt mit Gläsern, Zitronen und heißem
Wasser auf einem Tablett herein.)
(Candida.) Wer wünscht etwas Limonade? Sie kennen unsere Hausregel:
vollkommene Abstinenz! (Sie stellt das Tablett auf den Tisch, nimmt
den Zitronenpresser zur Hand und blickt fragend umher.)
(Morell.) Du bemühst dich umsonst, meine Liebe, sie haben alle
Champagner getrunken, Prossi hat ihr Gelübde gebrochen.
(Candida zu Proserpina:) Sie wollen doch nicht behaupten, daß Sie auch
Champagner getrunken haben?
(Proserpina verstockt:) Ja, das hab' ich; ich bin nur eine Bier-,
keine Champagnerabstinenzlerin. Ich mag kein Bier.--Sind Briefe für
mich zur Beantwortung da, Herr Pastor?
(Morell.) Nichts mehr für heute.
(Proserpina.) Dann gute Nacht allerseits.
(Mill galant:) Wäre es nicht geraten, daß ich Sie nach Hause begleite,
Fräulein Garnett?
(Proserpina.) Nein, ich danke. Ich würde mich heute nacht niemandem
anvertrauen wollen! Hätte ich nur nichts von diesem Zeug getrunken!
Sie geht rasch hinaus.
(Burgess empört:) Zeug! Dieses Mädel weiß nicht, was Champagner ist.
Pommery und Greno, zwölf Schilling sechs Pence die Flasche. Zwei
Gläser nacheinander hat sie geleert.
(Morell etwas besorgt:) Gehen Sie, Lexi, und sehen Sie nach ihr!
(Mill beunruhigt:) Aber wenn sie wirklich... bedenken Sie, wenn sie in
den Straßen zu singen anfängt oder dergleichen!
(Morell.) Eben darum wäre es besser, Sie brächten sie sicher nach
Hause.
(Candida.) Tun Sie es, Lexi, als guter Kamerad! (Sie reicht ihm die
Hand und schiebt ihn sanft nach der Tür.)
(Mill.) Es ist selbstverständlich meine Pflicht, mit ihr zu gehen.
Ich hoffe aber, es wird nicht nötig gewesen sein. Gute Nacht, Frau
Morell. (Zu den übrigen:) Gute Nacht. (Er geht, Candida schließt die
Tür hinter ihm.)
(Burgess.) Er war selbst ganz aus dem Häuschen in lauter Frömmigkeit
nach dem zweiten Glas. Heutzutage können die Leute nicht mehr trinken
wie früher. (Den Gegenstand fallen lassend, geht er vom Kamin fort.)
Nun, Jakob, es ist Zeit, das Haus zu schließen. Herr Marchbanks,
werden Sie mir auf dem Heimwege ein Stückchen das Vergnügen Ihrer
Gesellschaft schenken?
(Marchbanks erschrocken:) Ja, es ist besser, ich gehe. (Er eilt nach
der Tür, aber Candida stellt sich ihm in den Weg.)
(Candida mit ruhiger Würde:) Sie setzen sich noch, Sie werden noch
nicht gehen!
(Marchbanks eingeschüchtert:) Nein,--ich--ich wollte ja auch nicht.
(Er kommt zurück in das Zimmer und setzt sich gehorsam auf das Sofa.)
(Candida.) Herr Marchbanks bleibt heute nacht bei uns, Papa.
(Burgess.) Na, dann sage ich gute Nacht. Auf Wiedersehn, Jakob. (Er
schüttelt Morell die Hand und geht hinüber zu Eugen.) Lassen Sie sich
ein Nachtlicht an Ihr Bett stellen, Herr Marchbanks, es wird Sie
beruhigen, falls Sie in der Nacht einen Anfall Ihres Leidens bekommen
sollten! Gute Nacht.
(Marchbanks.) Ich danke Ihnen, es soll geschehn. Gute Nacht, Herr
Burgess. (Sie geben einander die Hände, Burgess geht zur Tür.)
(Candida hält Morell zurück, der Burgess begleiten will:) Bleib' hier,
mein Lieber, ich werde Papa seinen Rock anziehen helfen. (Sie geht
mit Burgess hinaus.)
(Marchbanks.) Herr Pastor, es wird eine schreckliche Szene geben.
Haben Sie keine Angst?
(Morell.) Nicht die geringste.
(Marchbanks.) Ich habe Sie bisher nie um Ihren Mut beneidet. (Er
erhebt sich schüchtern und berührt mit seiner Hand flehend Morells
Unterarm:) Stehen Sie mir bei,--wollen Sie?
(Morell schüttelt ihn sanft, aber entschieden ab:) Jeder für sich,
Eugen! Sie--muß nun zwischen uns wählen. (Er gebt beim Eintritt
Candidas auf die andere Seite des Zimmers, Eugen setzt sich mit seinem
besten Benehmen wie ein schuldbewußter Schulknabe auf das Sofa.)
(Candida zwischen den beiden, sich zu Eugen wendend:) Tut es Ihnen
leid?
(Marchbanks ernst:) Ja, unendlich.
(Candida.) Gut, dann ist Ihnen verziehen. Nun gehen Sie wie ein
braver kleiner Junge zu Bett, ich möchte mit Jakob über Sie sprechen.
(Marchbanks erhebt sich mit größter Bestürzung:) Oh, das kann ich
nicht.--Herr Pastor, ich muß hierbleiben. Ich will nicht fortgehen.
Sagen Sie es ihr!
(Candida die ihren Verdacht bestätigt sieht:) Was soll er mir sagen?
(Seine Augen vermeiden die ihrigen, sie wendet sich um und überträgt
ihre Frage stumm auf Morell.)
(Morell wappnet sich für die Katastrophe:) Ich habe ihr nichts zu
sagen, ausgenommen--(dabei sinkt seine Stimme zu maßvoller, trauriger
Zärtlichkeit herab:) daß sie mein größter Schatz auf Erden ist--wenn
sie mir wirklich gehört.
(Candida kalt, verletzt, daß er seinem Rednerinstinkt nachgibt und sie
behandelt, als ob sie sich unter den Zuhörern der Gilde von St.
Matthäus befände:) Ich bin überzeugt, daß Eugen nicht weniger sagen
kann, wenn das alles ist.
(Marchbanks entmutigt:) Morell, sie lacht uns aus.
(Morell auffahrend:) Es gibt da nichts zu lachen. Lachst du uns aus,
Candida?
(Candida mit stillem Ärger:) Eugen ist sehr witzig, ich hoffe, daß ich
lachen werde--aber vorläufig fürchte ich, mich ärgern zu müssen. (Sie
geht an den Kamin und bleibt dort stehen, ihren Arm auf dem Gesims und
ihren Fuß auf dem Gitter, während Eugen sich zu Morell hinstiehlt und
ihn beim Arm faßt.)
(Marchbanks flüsternd:) Halten Sie ein, Herr Pastor; sagen wir nichts
mehr.
(Morell stößt Eugen fort, ohne ihn eines Blickes zu würdigen:) Ich
hoffe, daß du mir nicht drohen willst, Candida.
(Candida mit feierlicher Warnung:) Nimm dich in acht, Jakob!--Eugen,
ich habe gewünscht, daß Sie gehen sollen,--gehen Sie oder nicht?
(Morell mit dem Fuße stampfend:) Er wird nicht gehen; ich wünsche, daß
er bleibt.
(Marchbanks.) Ich will gehen. Ich tue, was Sie wollen. (Er wendet
sich zur Tür.)
(Candida.) Bleiben Sie. (Er gehorcht.) Haben Sie nicht gehört, daß
Jakob wünscht, daß Sie bleiben sollen? Jakob ist hier der Herr,
wissen Sie das nicht?
(Marchbanks errötend, mit der Wut eines jungen Dichters gegen Tyrannei:)
Was gibt ihm das Recht dazu?
(Candida ruhig:) Sag es ihm, Jakob.
(Morell bestürzt:) Meine Liebe, ich bin mir keines Rechtes bewußt, das
mich zum Herrn macht; ich bestehe auf keinem solchen Rechte.
(Candida mit schwerem Vorwurf:) Du weißt es nicht? O Jakob, Jakob!
(Zu Eugen nachdenklich:) Ich wüßte gern, ob Sie das verstehen, Eugen...
Nein, Sie sind zu jung. Nun, ich erlaube Ihnen, zu bleiben und zu
lernen. (Sie geht von Kamin fort und stellt sich zwischen die beiden.)
Also, Jakob, was ist's? Komm und sag' es mir.
(Marchbanks flüstert ihm ängstlich zu:) Sagen Sie ihr lieber nichts.
(Candida.) Bitte!--Heraus damit!
(Morell langsam:) Ich wollte dich sorgfältig vorbereiten, Candida, um
jedes Mißverständnis zu vermeiden.
(Candida.) Ja, Lieber, das wolltest du gewiß; aber sei unbesorgt, ich
werde nichts mißverstehen.
(Morell.) Nun denn, es--(Er zögert, unfähig, die lange Erklärung zu
finden, die er für nötig hält.)
(Candida.) Nun?
(Morell klipp und klar:) Eugen behauptet, daß du ihn liebst.
(Marchbanks außer sich:) Nein, nein, nein, nein, niemals, das habe ich
nicht behauptet, Frau Morell, es ist nicht wahr! Ich sagte, daß ich
Sie liebe und er nicht. Ich sagte, daß ich Sie verstehe und daß er es
nicht kann. Und nicht infolgedessen, was sich hier am Kamin
zugetragen hat, habe ich das gesagt,--ganz gewiß nicht, auf mein Wort!
schon heute morgen hab' ich es ihm gesagt!
(Candida erleuchtet:) Heute morgen?!
(Marchbanks.) Ja! (Er siebt sie um Glauben bittend an und fügt dann
einfach hinzu:) Das war auch der Grund, warum mein Kragen in Unordnung
geriet.
(Candida nach einer Pause, weil sie nicht gleich begreift, was er
meint:) Ihr Kragen! (Sie wendet sich erschrocken zu Morell, verletzt:)
O Jakob, hast du ihn--? (Sie hält inne.)
(Morell beschämt:) Du weißt, Candida, daß ich mit meinem Temperament
zu kämpfen habe, und er sagte, (schauernd:) daß du mich verachtest in
deinem Herzen.
(Candida wendet sich rasch zu Eugen:) Haben Sie das gesagt?
(Marchbanks geängstigt:) Nein!
(Candida strenge:) Dann hat mich also Jakob eben angelogen. Wollen
Sie das behaupten?
(Marchbanks.) Nein, nein: ich--ich... (herausplatzend mit der
verzweifelten Erklärung:)--es war die Rede von Davids Frau, nicht bei
ihm zu Hause, sondern als sie ihn tanzen sah vor allen Leuten.
(Morell nimmt diesen Fingerzeig mit der Geschicklichkeit eines
Wortkämpfers auf:) Ja, als er vor dem ganzen Volke tanzte, Candida, in
der Meinung, daß er ihre Herzen dadurch rührte, während sie nur an
Prossis Leiden litten. (Sie ist im Begriff zu protestieren, er winkt
ihr mit der Hand, um sie zum Schweigen zu bringen, und fährt fort:)
Tue nicht als ob du entrüstet wärest, Candida.
(Candida.) Tun als ob?!
(Morell fortfahrend:) Eugen hatte recht! Wie du mir einige Stunden
später klarmachtest, hat er immer recht. Er sagte nichts, was du
nicht viel besser selbst gesagt hättest. Er ist der Dichter, der
alles sieht; und ich bin der arme Pastor, der nichts versteht.
(Candida reuevoll:) Ärgert dich, was ein närrischer junge gesagt hat,
weil ich im Scherz etwas Ähnliches sagte?
(Morell.) Der närrische Junge kann mit der Begeisterung eines Kindes
und mit der Verschlagenheit einer Schlange sprechen. Er hat behauptet,
daß du ihm gehörst und nicht mir, und, ob mit Recht oder Unrecht, ich
beginne zu fürchten, daß es wahr sein könnte. Ich will nicht
umhergehen von Zweifeln und Verdächtigungen gequält. Ich will nicht
mit dir leben und ein Geheimnis vor dir haben. Ich will nicht die
entwürdigende Qual der Eifersucht erdulden. Deshalb haben wir
beschlossen--er und ich--daß du jetzt zwischen uns wählen sollst! Ich
erwarte deine Entscheidung.
(Candida weicht langsam einen Schritt zurück, verletzt über sein
Pathos, trotz des aufrichtigen Gefühls, das sie heraushört:) Oh, ich
muß also wählen? Ich nehme an, daß eines vollkommen feststeht: daß
ich einem o d e r dem andern gehören muß.
(Morell entschlossen:) Vollkommen; du mußt endgültig wählen.
(Marchbanks ängstlich:) Herr Pastor,--Sie verstehen nicht: sie meint,
daß sie sich selbst gehört.
(Candida sich zu ihm wendend:) ja, das meine ich, Junker Eugen, und
noch sehr viel mehr, wie Ihr beide sofort herausfinden werdet. Und
ich frage, meine Herren und Gebieter, was habt Ihr für meine Wahl zu
geben? Es scheint, daß ich versteigert werden soll. Wieviel bietest
du, Jakob?
(Modell vorwurfsvoll:) Cand.... (Er bricht zusammen, seine Augen
füllen sich mit Tränen, und seine Kehle schnürt sich zu, der Redner
wird zu einem verwundeten Tier.) Ich kann nicht sprechen.
(Candida geht impulsiv zu ihm hin:) O Liebster!
(Marchbanks in wildem Aufruhr:) Halten Sie ein, das ist nicht gerecht.
Sie dürfen ihr nicht zeigen, daß Sie leiden, Morell.--Ich bin auch
auf der Folter, aber ich weine nicht.
(Morell nimmt seine ganze Kraft zusammen:) Ja, Sie haben recht. Es
ist nicht Mitleid, worum ich bitte. (Er befreit sich von Candida.)
(Candida zieht sich frostig zurück:) Entschuldige, Jakob, ich hatte
nicht die Absicht, dich zu berühren. Ich warte auf dein Angebot.
(Morell mit stolzer Demut:) Ich habe dir nichts zu bieten als meine
Kraft zu deinem Schutze, mein ehrliches Wollen für deine Ruhe, meine
Tüchtigkeit und Arbeit für deinen Unterhalt und mein Ansehen und meine
Stellung für deine Würde. Das ist alles, was einem Manne ansteht,
einer Frau zu bieten.
(Candida ganz ruhig:) Und Sie, Eugen, was bieten Sie?
(Marchbanks.) Meine Schwäche! meine Trostlosigkeit! meine Herzensnot!
(Candida gerührt:) Das ist ein gutes Angebot, Eugen; nun weiß ich, wie
ich meine Wahl zu treffen habe. (Sie hält inne und blickt seltsam von
einem zum andern, als ob sie beide abschätzte. Morell, dessen
hochtmütiges Zutrauen sich in herzzerreißende Angst bei Eugens Gebot
verwandelt hat, verliert alle Beherrschung, und kann seine Angst nicht
verbergen. Eugen dagegen, mit äußerst angespannter Kraft, zuckt mit
keiner Wimper.)
(Morell mit halb erstickter Stimme--ein Hilferuf entringt sich den
Tiefen seiner Verzweiflung:) Candida!
(Marchbanks beiseite mit einem Aufwallen der Verachtung:) Feigling!
(Candida bedeutsam:) Ich gebe mich dem Schwächeren von beiden. (Eugen
errät ihre Meinung sofort; sein Gesicht wird weiß wie scbmelzender
Stahl.)
(Morell neigt seinen Kopf mit der Ruhe der Gebrochenheit:) Ich nehme
deine Entscheidung an, Candida.
(Candida.) Verstehen Sie, Eugen?
(Marchbanks.) Oh, ich fühle, ich bin verloren. Er könnte die Last
nicht ertragen!
(Morell ungläubig, hebt seinen Kopf empor, mit prosaischer Stumpfheit:)
Meinst du mich, Candida?
(Candida lächelt ein wenig:) Setzen wir uns und plaudern wir gemütlich
darüber wie drei Freunde. (Zu Morell:) Setze dich, mein Lieber.
(Morell nimmt den Stuhl vom Kamin--den Kindersessel.) Bringen Sie mir
diesen Stuhl, Eugen. (Sie weist auf den Lehnstuhl, er holt ihn
schweigend, sogar mit etwas wie kühler Beherrschung und setzt ihn
neben Morell, etwas hinter ihn. Sie setzt sich, er geht an das Sofa
und läßt sich dort nieder, noch immer schweigsam und unergründlich.
Als sie alle sitzen, beginnt Candida,--einen Hauch von Ruhe um sich
breitend, mit ihrer sanften, gesunden, zärtlichen Stimme:) Sie
erinnern sich doch, was Sie mir über sich selbst erzählten, Eugen: wie
sich niemand um Sie gekümmert hat, seit Ihre alte Amme starb. Wie
Ihre gescheiten, vornehmen Schwestern und erfolgreichen Brüder die
Lieblinge Ihrer Eltern waren, wie elend es Ihnen in Eton erging, wie
Ihr Vater Sie durch Entbehrungen zwingen will, nach Oxford
zurückzukehren, wie Sie leben mußten ohne Behaglichkeit oder
Willkommen, ohne Zufluchtsstätte, immer einsam und fast immer ungern
gesehen und mißverstanden! Sie armer Junge!