Bernard Shaw

Candida Ein Mysterium in drei Akten
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(Marchbanks der Größe seines Schicksals würdig:)  Ich hatte meine
Bücher.  Ich hatte die Natur.  Und endlich bin ich Ihnen begegnet.

(Candida.)  Lassen wir das im Augenblick beiseite.  Nun möchte ich, daß
Sie sich diesen andern Jungen hier betrachten,--meinen verwöhnten
Jungen,--verwöhnt von seiner Wiege an.  Einmal alle vierzehn Tage
besuchen wir seine Eltern.  Da sollten Sie mit uns kommen, Eugen, und
die Bilder des Helden dieser Familie sehen.  Jakob als Baby, das
wundervollste aller Babys!  Jakob, als er seinen ersten Schulpreis
erhielt, gewonnen im reifen Alter von acht Jahren!  Jakob als der
Führer seiner Mitschüler beim Cricketspiel!  Jakob in seinem ersten
schwarzen Anzug!  Jakob in allen möglichen ruhmvollen Posen.  Sie
wissen, wie stark er ist--ich hoffe, er hat Ihnen nicht weh getan--wie
gescheit er ist--wie glücklich!  (Mit wachsendem Ernst:)  Fragen Sie
Jakobs Mutter und seine drei Schwestern, was es sie gekostet hat,
Jakob die Mühe zu ersparen, irgend etwas zu tun, als stark, gescheit
und glücklich zu sein.  Fragen Sie mich, was es mich kostet, Jakobs
Mutter und seine drei Schwestern und seine Frau und Mutter seiner
Kinder--alles in einer Person--zu sein!  Fragen Sie Prossi und Marie,
wieviel Arbeit das Haus gibt, selbst wenn wir keine Besucher haben,
die uns helfen Zwiebeln schneiden.  Fragen Sie die Geschäftsleute, die
Jakob stören und seine prachtvollen Predigten gefährden wollen, wer es
ist, der sie abschüttelt!  Wenn Geld zu geben ist, so gibt er es; wenn
Geld zu verweigern ist, so verweigere ich es.  Ich habe ihm ein Schloß
von Behaglichkeit, Nachsicht und Liebe erbaut und stehe immer
Schildwache davor, um all den täglichen kleinen Lebenssorgen den
Eintritt zu verwehren.  Ich mache ihn hier zum Herrn, obwohl er es
nicht weiß und Ihnen vor einem Augenblicke nicht sagen konnte, wie er
dazu gekommen ist, es zu sein.  (Mit süßer Ironie:)  Und als er dachte,
ich könnte mit Ihnen fortgehen, da war seine einzige Sorge, was aus
mir werden würde; und um mich zum Bleiben zu bewegen, bot er mir--
(sie neigt sich vor und streicht ihm bei jedem Satze über das Haar)
seine Kraft zu meinem Schutze, seine Arbeit für meinen Unterhalt,
seine Stellung für meine Würde, seine (zögernd:)  ah, ich
verwechsle deine wunderschönen Sätze und verderbe sie, nicht
wahr, Liebling?

(Morell kniet ganz überwältigt neben ihren Stuhl und umschlingt sie
mit knabenhafter Leidenschaft:)  Alles ist wahr, jedes Wort.  Was ich
bin, hast du aus mir gemacht, durch die Arbeit deiner Hände und die
Liebe deines Herzens.  Du bist mein Weib, meine Mutter, meine
Schwester,--du bist die Summe aller Liebessorgen für mich.

(Candida in seinen Armen, lächelnd zu Marchbanks:)  Bin ich Ihnen auch
Mutter und Schwester, Eugen?

(Marchbanks erhebt sich mit einer heftigen Bewegung des Ekels:)  Oh,
niemals!  Hinaus denn in die Nacht mit mir!

(Candida erhebt sich rasch und unterbricht ihn:)  sie werden nicht so
von uns gehn, Eugen!

(Marchbanks mit dem Tonfall eines entschlossenen Mannes, nicht mit der
Stimme eines Knaben:)  Ich weiß, wann die Stunde geschlagen hat.  Ich
bin ungeduldig zu tun, was getan werden muß.

(Morell erhebt sich von seinen Knien, beunruhigt:)  Candida, laß ihn
nichts Übereiltes begehen!

(Candida lächelt Eugen vertrauensvoll an:)  Oh, sei unbesorgt, er hat
gelernt, ohne Glück zu leben.

(Marchbanks.)  Ich ersehne nicht mehr Glück; das Leben kann Höheres
bieten.  Pastor Jakob, ich gebe Ihnen mein Glück mit beiden Händen hin;
ich liebe Sie, weil Sie das Herz der Frau, ganz ausgefüllt haben, die
ich liebte.  Leben Sie wohl!  (Er geht zur Tür.)

(Candida.)  Ein letztes Wort.  (Er hält inne, aber ohne sich nach ihr
umzuwenden.)  Wie alt sind Sie, Eugen?

(Marchbanks.)  Jetzt bin ich so alt wie die Welt.  Heute morgen war ich
achtzehn Jahre!

(Candida geht zu ihm hin und steht hinter ihm, eine Hand liebkosend
auf seiner Schulter:)  Achtzehn...  Wollen Sie mir zuliebe ein kleines
Gedicht aus zwei Zeilen machen, die ich Ihnen sagen will?  Und wollen
Sie mir versprechen, sich's immer vorzusagen, so oft Sie an mich
denken.

(Marchbanks ohne sich zu rühren:)  Sagen Sie die beiden Zeilen.

(Candida.)  Wenn ich dreißig sein werde, dann wird sie fünfundvierzig
sein; wenn ich sechzig sein werde, dann wird sie fünfundsiebzig sein.

(Marchbanks wendet sich nach ihr um:)  In hundert Jahren werden wir
gleich alt sein!  Aber ich trage ein besseres Geheimnis als das in
meinem Herzen!  Lassen Sie mich jetzt gehen, die Nacht wächst draußen
ungeduldig.

(Candida.)  Leben Sie wohl!  (Sie nimmt sein Gesicht in die Hände, und
da er ihre Absicht errät und sein Knie beugt, küßt sie ihn auf die
Stirne, dann flieht er hinaus in die Nacht.--Sie wendet sich zu Morell,
mit ausgebreiteten Armen:)  O Jakob!  (Sie umarmen einander.  Aber das
Geheimnis in des Dichters Herzen, das kennen sie nicht.)

(Vorhang)
                
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