Bernard Shaw

Candida Ein Mysterium in drei Akten
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CANDIDA

Ein Mysterium in drei Akten

George Bernard Shaw

Übersetzt von Siegfried Trabitsch







PERSONEN

Pastor Jakob Morell
Candida, seine Frau
Burgess, ihr Vater
Alexander Mill, Unterpfarrer
Proserpina Garnett, Maschinenschreiberin
Eugen Marchbanks, ein junger Dichter

Ort der Handlung: Die St. Dominikpfarre, Viktoriapark, London E.

Zeit: Oktober 1894.




ERSTER AKT

(Ein schöner Oktobermorgen im nordöstlichen Viertel Londons.  In
diesem ausgedehnten Bezirk sind die Seitengässchen viel weniger
schmal, schmutzig, übelriechend und stickig als in dem viele
Meilen entfernten London von Mayfair und St. James.  Hier spielt
sich besonders das unelegante Leben der Mittelklassen ab. Die
breiten, dichtbevölkerten Strassen sind mit hässlichen eisernen
Bedürfnisanstalten, radikalen Klubs und Trambahnlinien, auf denen
Ketten von gelben Wagen endlos einziehen, reichlich versehn.  Doch
Sind die Hauptverkehrsadern mit grasbewachsenen Vorgärtchen verziert,
von denen man nur den kleinen Streifen betritt, der vom Pförtchen zur
Haustür führt.  Jene Strassen werden durch die stumm geduldete
Eintönigkeit sich meilenweit erstreckender hässlicher Ziegelbauten,
schwarzer Eisengitter, Steinpflaster und Schieferdächer arg entstellt.
Anständig aber unmodern oder gemein und ärmlicb gekleidete Leute, die
an dieses Viertel gewöhnt sind und sich zumeist in aufreibender Weise
für andere plagen müssen, ohne sich für ihre Arbeit zu interessieren,
bilden ihre Bewohner.  Das bisschen ihnen gebliebene Energie und Eifer
gipfelt in der Habgier des Londoner Cockneys und in der Begierde, ihr
Geschäft vorwärts zu bringen.  Selbst die Schutzleute und die Kapellen
sind nicht selten genug, die Eintönigkeit zu unterbrechen.  Die Sonne
scheint klar, es ist nicht neblig, und obgleich der Rauch sowohl die
Gesichter und Hände als auch die Mauern aus Ziegelstein und Mörtel
verhindert, frisch und rein zu sein, so ist er doch nicht schwarz und
schwer genug, um einen Londoner zu belästigen.)

(Diese reizlose Wüste hat ihre Oase.  Am äussersten Ende der
Hackneystrasse ist ein durch ein hölzernes Pfahlwerk abgeschlossener
Park von 270 Morgen angelegt.  Er enthält Rasenplätze, Bäume, einen
Teich zum Baden, Blumenbeete, die Triumphe der vielbewunderten
Cockney-Kunst der Teppichgärtnerei sind, und eine Sandgrube, die
ursprünglich zur Belustigung der Kinder vom Meeresufer importiert,
aber schleunigst verlassen wurde, als sie sich in eine natürliche
Ungezieferbrutstätte für die ganz kleine Fauna von Kingsland,
Hackney und Hoxton verwandelte.  Ein Orchester, ein kleines
Forum für religiöse, antireligiöse und politische Redner,
Cricketplätze, ein Turnplatz und ein altmodischer Steinkiosk bilden die
Hauptanziehungspunkte.  Wo die Aussicht von Bäumen oder grünen Anhöhen
begrenzt wird, ist es ein hübscher Aufenthaltsort.  Wo sich aber der
Boden flach bis zu dem grauen Lattenzaun hinzieht und man Ziegel und
Mörtel, Reklameschilder, zusammengedrängte Schornsteine und Rauch
gewahrt muss die Gegend (im Jahre 1894), trostlos und hässlich genannt
werden.)

(Die beste Aussicht auf den Viktoriapark gewinnt man von den
Frontfenstern der St. Dominikpfarre; von dort sieht man auf keinerlei
Mauerwerk.  Das Pfarrhaus steht halb frei, mit einem Vorgarten und
einer Vorhalle.  Besucher benützen die Stufen, die auf die Veranda
führen, Geschäftsleute und Familienmitglieder geben durch eine Tür
unterhalb der Treppe in das Erdgeschoß, wo ein Frühstückszimmer nach
vorne liegt, das zu allen Mahlzeiten dient; die Küche liegt hinten.
Oben, auf einem Niveau mit der Flurtür, befindet sich das
Empfangszimmer mit seinem breiten Fenster aus geschliffenem Glas, das
auf den Park hinausführt.)

(Hier, in dem einzigen Raume, der von den Familienmahlzeiten und den
Kindern verschont bleibt, vollbringt der Pfarrer, Reverend Jakob Mavor
Morell, sein Tagewerk.  Er sitzt in einem starken drehbaren Stuhl mit
runder Lehne am Ende eines langen Tisches, der dem Fenster
gegenübersteht, so daß er sich durch einen Blick über die linke
Schulter an der Aussicht auf den Park erfreuen kann.  Am Ende des
Tisches, an diesen anstoßend, befindet sich ein zweiter Tisch, der nur
halb so breit ist und eine Schreibmaschine trägt.--Seine Schreiberin
sitzt davor mit dem Rücken gegen das Fenster.  Der große Tisch ist
unordentlich mit Zeitungen, Broschüren, Briefen, Schubladeeinsätzen,
einem Notizheft, einer Briefwage und ähnlichen Dingen bedeckt.  In der
Mitte steht ein übriger Stuhl für die Besucher, die mit dem Pfarrer
geschäftlich zu tun haben.  Seiner Hand erreichbar steht eine
Papierkassette und eine Photographie in einem Rahmen.  Die Wand hinter
ihm ist mit Bücherregalen zugestellt.  Die theologische Richtung des
Pfarrers kann ein Sachverständiger an: Maurices "Theologischen Essays"
und einer vollständigen Ausgabe der Browningschen Gedichte erkennen,
seine politischen Reformideen an einem gelbrückigen Band "Fortschritt
und Armut", den "Essays der Fabier", dem "Traum John Bulls" von
William Morris, dem "Kapital" von Marx und einem halben Dutzend
anderer grundlegender sozialistischer Bücher.  Dem Pfarrer gegenüber,
auf der andern Seite des Zimmers in der Nähe der Schreibmaschine, ist
die Tür.  Weiter hinten, dem Kamin gegenüber, steht ein Bücherbrett
auf einem Spind, daneben ein Sofa.  Ein starkes Feuer brennt im Kamin
und davor steht ein bequemer Lehnstuhl, ferner ein schwarz lackierter,
blumenbemalter Kohleneimer auf der einen Seite und ein Kindersessel
für einen Knaben oder ein Mädchen auf der anderen.  Der hölzerne
Kaminsims ist lackiert, und in den kleinen Feldern der nett geformten
Fächer sind winzige Spiegelgläser eingelegt, und eine Reiseuhr in
einem Lederetui (das unvermeidliche Hochzeitsgeschenk) steht darauf.
An der Wand darüber hängt eine große Autotypie der Hauptfigur aus
Tizians Assunta.  So sieht der Kamin sehr einladend aus.  Im ganzen
gesehen ist es das Zimmer einer guten Hausfrau, die, was des Pastors
Arbeitstisch betrifft, an etwas Unordnung gewöhnt ist, aber trotzdem
die Situation vollkommen beherrscht.  Die Einrichtung verrät in ihrem
ornamentalen Aussehen den Stil der in den Zeitungen annoncierten
"Saloneinrichtung" des unternehmenden Vorstadtmöbelhändlers; aber es
ist nichts Zweckloses oder Aufdringliches in dem Zimmer.  Die Tapeten
und die Täfelung sind dunkel und lassen das große helle Fenster und
den Park draußen kräftig hervortreten.)

(Hochwürden Jakob Mavor Morell ist ein christlich-sozialer Geistlicher
der anglikanischen Kirche und ein aktives Mitglied der Gilde von
"Sankt Matthäus" und der "Christlich Socialen Union".  Ein starker,
freundlicher, allgemein geachteter Mann von vierzig fahren, kräftig
und hübsch, voll Energie und mit liebenswürdigen, herzlichen,
rücksichtsvollen Manieren, mit einer gesunden, natürlichen Stimme, die
er mit der wirkungsvollen Betonung eines geübten Redners benutzt.  Er
verfügt über einen großen Wortschatz, den er vollkommen beherrscht.
Er ist ein vorzüglicher Geistlicher, fähig, was er will zu wem er will
zu sagen und die Leute abzukanzeln, ohne sich über sie zu ärgern,
ihnen seine Autorität aufzudrängen, ohne sie zu demütigen und, wenn es
sein muß, sich in ihre Angelegenheiten zu mischen, ohne dabei zu
verletzen.  Die Quelle seiner Begeisterung und seines Mitgefühls
versiegt niemals auch nur für einen Augenblick; er ißt und schläft
noch immer ausgiebig genug, um die tägliche Schlacht zwischen
Erschöpfung und Erholung glänzend zu gewinnen.  Dabei ist er ein
großes Kind, verzeihlicherweise eitel auf seine Fähigkeiten und
unbewust selbstgefällig.  Er hat eine gesunde Gesichtsfarbe, eine
schöne Stirn mit etwas plumpen Augenbrauen, glänzende und lebhafte
Augen, einen energischen Mund, der nicht besonders schön geschnitten
ist, und eine kräftige Nase mit den beweglichen, sich blähenden
Nasenflügeln des dramatischen Redners, die aber wie alle seine Züge
der Feinheit entbehrt.)

(Die Maschinenschreiberin, Fräulein Proserpina Garnett, ist eine flinke
kleine Person von ungefähr dreißig Jahren, sie gehört der unteren
Mittelklasse an, ist nett, aber billig mit einem schwarzen Wollrock
und einer Bluse bekleidet, ziemlich vorlaut und naseweis und nicht
sehr höflich in ihrem Benehmen, aber empfindungsfähig und
teilnahmsvoll.  Sie klappert emsig auf ihrer Maschine drauf los,
während Morell den letzten Brief seiner Morgenpost öffnet.  Er
durchfliegt seinen Inhalt mit einem komischen Stöhnen der Verzweiflung.)

(Proserpina.)  Wieder ein Vortrag?

(Morell.)  Ja.  Ich soll nächsten Sonntagvormittag für die
Freiheitsgruppe von Hoxton sprechen.  (Er betont mit großer
Wichtigkeit "Sonntag", weil das der unvernünftige Teil des Verlangens
ist.)  Was sind das für Leute?

(Proserpina.)  Ich glaube, kommunistische Anarchisten.

(Morell.)  Es sieht den Anarchisten ähnlich, nicht zu wissen, daß sie
am Sonntag keinen Pastor haben können.  Schreiben Sie ihnen, sie
sollen in die Kirche kommen, wenn sie mich hören wollen, das kann
ihnen nicht schaden!  Und fügen Sie hinzu, daß ich nur Montags und
Donnerstags frei bin.  Haben Sie das Vormerkbuch da?

(Proserpina hebt das Vormerkbuch auf:)  Ja!

(Morell.)  Ist irgendeine Vorlesung für nächsten Montag angesetzt?

(Proserpina im Vormerkbuch nachschlagend:)  Der radikale Klub von Tower
Hamlet.

(Morell) Nun, und Donnerstag?

(Proserpina.)  Die englische Bodenreform-Liga.

(Morell.)  Was dann?

(Proserpina.)  In der Gilde von Sankt Matthäus am Montag.  In der
unabhängigen Arbeitervereinigung, Abteilung Greenwich, am Donnerstag;
am Montag darauf in der soziademokratischen Föderation, Abteilung Mile
End; am folgenden Donnerstag ist die erste Konfirmationsklasse.
(Ungeduldig:)  Ach, ich will lieber schreiben, daß Sie überhaupt nicht
kommen können; es sind doch nur ein halbes Dutzend unwissende und
eingebildete Hausierer, die miteinander keine fünf Schilling haben.

(Morell belustigt:)  Ah, aber bedenken Sie, es sind nahe Verwandte von
mir, Fräulein Garnett.

(Proserpina ihn anstarrend:)  Verwandte von Ihnen?

(Morell.)  Ja!  Wir haben denselben Vater--im Himmel.

(Proserpina erleichtert:)  Oh, weiter nichts?

(Morell mit einer Melancholie, die einem Manne Genuß ist, dessen
Stimme sie schon so schön auszudrücken vermag:)  Ah, Sie glauben das
auch nicht,--jedermann sagt es, niemand glaubt es, niemand!  (Schnell
zu seinem Gegenstande zurückkehrend:)  Gut, gut!  Na, Fräulein
Proserpina, können Sie keinen Tag für die Hausierer finden, wie ist's
mit dem fünfundzwanzigsten,--der war noch vorgestern frei.

(Proserpina aus dem Vormerkbuch:)  Auch vergeben--an die Fabier.

(Morell.)  Hol' der Geier die Fabier!  Ist der achtundzwanzigste
gleichfalls vergeben?

(Proserpina.)  Bankett in der City.  Sie sind von den Hüttenbesitzern
zum Speisen eingeladen.

(Morell.)  Das geht, ich werde eben statt dessen nach Hoxton gehen.
(Sie trägt diese Verpflichtung schweigend ein, mit unerschütterlicher
Verachtung gegen diese Hoxtoner Anarchisten, die sich in jeder Linie
ihres Gesichtes spiegelt.  Morell reißt das Streifband eines Exemplars
des "Church Reformer" ab, das mit der Post angekommen ist, und
überfliegt den Leitartikel Stewart Hedlams und die Mitteilungen der
Gilde von Sankt Matthäus.  Diese Vorgänge werden alsbald durch das
Erscheinen des Unterpfarrers Morells, Alexander Mill, unterbrochen.
Er ist ein junger Mensch, den Morell von der nächsten Missionstelle
der Universität bezogen hat, wohin er von Oxford gekommen war, um dem
East-End von London die Wohltat seiner akademischen Bildung angedeihen
zu lassen.  Er ist ein eingebildeter, gutgesinnter, unreifer Mann, von
enthusiastischer Natur.  Nichts absolut Unausstehliches ist in seinem
Wesen außer der Gewohnheit, um eine gezierte Sprache zu erzielen, mit
sorgsam geschlossenen Lippen zu reden und eine Menge Vokale schlecht
auszusprechen, als ob dies das Hauptmittel wäre, die Bildung Oxfords
unter den Pöbel Hackneys zu tragen.)

(Morell, den er durch eine hündische Unterwürfigkeit für sich gewann,
blickt nachsichtig von seiner Lektüre im "Church Reformer" auf und
bemerkt:)  Nun, Lexi, wieder verschlafen, wie gewöhnlich?

(Mill.)  Leider ja.  Ich wollte, ich könnte des Morgens leichter
aufstehen.

(Morell freut sich der eigenen Energie:)  Ha, ha! (launig:)  "Wache und
bete", Lexi, "wache und bete".

(Mill.)  Ich weiß.  (Er benützt diese Gelegenheit sofort, um einen Witz
zu machen.)  Aber wie kann ich wachen und beten, wenn ich schlafe;
--hab' ich nicht recht, Fräulein Prossi?

(Proserpina scharf:)  Fräulein Garnett, wenn ich bitten darf.

(Mill.)  Entschuldigen Sie, Fräulein Garnett.

(Proserpina.)  Sie müssen heute alle Arbeit allein erledigen.  (Mill.)
Warum?

(Proserpina.)  Fragen Sie nicht, warum.  Es wird Ihnen wohl bekommen,
Ihr Abendbrot einmal zu verdienen, bevor Sie es essen, wie ich es
täglich tue.  Los, trödeln Sie nicht.  Sie sollten schon seit einer
halben Stunde unterwegs sein.

(Mill starr:)  Spricht sie im Ernst, Herr Pastor?

(Morell in bester Laune--seine Augen glänzen:)  Ja.  Heute werd' ich
einmal bummeln.

(Mill.)  Sie?  Sie wissen ja nicht, wie man das macht.

(Morell herzlich:)  Ha, ha!  Weißichdasnicht?  Diesen Tag will ich ganz
für mich haben, oder doch wenigstens den Vormittag!  Meine Frau kommt
nämlich zurück, um elf Uhr fünfundvierzig soll sie hier eintreffen.

(Mill erstaunt:)  Schon zurück--mit den Kindern?  Ich dachte, sie
wollte bis Ende des Monats fortbleiben.

(Morell.)  So ist es.  Sie kommt nur für zwei Tage her, um für Jimmy
etwas Flanellwäsche einzukaufen und um zu sehen, wie wir hier ohne sie
fertig werden.

(Mill ängstlich:)  Aber lieber Herr Morell, wenn das, was Jimmy und
Flussy gefehlt hat, wirklich Scharlach war, halten Sie es für klug?--

(Morell.)  Unsinn, Scharlach!  Masern waren es, ich habe sie selbst von
der Pycroftstraße aus der Schule nach Hause gebracht; ein Pastor ist
wie ein Arzt, mein Lieber, er muß der Ansteckung ins Auge sehen können
wie ein Soldat den Kugeln.  (Er erbebt sich und schlägt Mill auf die
Schultern.)  Trachten Sie, Masern zu bekommen, wenn Sie können; Candida
wird Sie dann pflegen, und was für ein Glücksfall wäre das für Sie,
--was?

(Mill unsicher lächelnd:)  Es ist schwer, Sie zu verstehen, wenn Sie
über Frau Morell sprechen.--

(Morell weich:)  Mein lieber Junge, seien Sie erst verheiratet!
Verheiratet mit einer guten Frau, und dann werden Sie mich verstehen.
Es ist ein Vorgeschmack von dem Besten, was uns in dem himmlischen
Reich erwartet, das wir uns auf Erden zu gründen versuchen.  Dann
werden Sie sich schon das Bummeln abgewöhnen!  Ein braver Mann fühlt,
daß er dem Himmel für jede Stunde des Glücks ein hartes Stück
selbstloser Arbeit zum Wohle seiner Mitmenschen schuldig ist.  Wir
haben ebensowenig das Recht, Glück zu verbrauchen, ohne es zu erzeugen,
als Reichtum zu verbrauchen, ohne ihn zu erwerben.  Suchen Sie sich
eine Frau wie meine Candida, und Sie werden immer Schuldner sein,
wieviel Sie auch abzahlen.  (Er klopft Mill liebevoll auf den Rücken
und ist im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als Mill ihn zurückruft.)

(Mill.)  Oh, warten Sie einen Augenblick, ich vergaß...  (Morell bleibt
stehen und wendet sich um, die Türklinke in der Hand.)  Ihr Herr
Schwiegervater wird hierherkommen, er hat mit Ihnen zu sprechen.
(Morell schließt die Tür wieder, mit vollkommen verändertem Wesen.)

(Morell überrascht und nicht erfreut:)  Burgess?

(Mill.)  Ja!  Ich traf ihn mit jemandem im Park, in eifrigem Gespräch.
Er sprach mich an und bat mich, Sie wissen zu lassen, daß er
hierherkommt.

(Moroll halb ungläubig:)  Aber er ist seit Jahren nicht hier gewesen.
Sind Sie sicher, Lexi?  Sie scherzen doch nicht etwa?--

(Mill ernst:)  Nein, Herr Pastor, ganz bestimmt nicht!

(Morell nachdenklich:)  Hm, hm, er hält es an der Zeit, sich wieder
einmal nach Candida umzusehen, ehe sie gänzlich aus seinem Gedächtnis
verschwindet.  (Er fügt sich in das Unvermeidliche und geht hinaus;
Mill sieht ihm mit begeisterter, närrischer Verehrung nach.  Fräulein
Garnett, die Mill nicht schütteln kann, wie sie möchte, läßt ihre
Gefühle an der Schreibmaschine aus.)

(Mill.)  Was für ein vortrefflicher Mann, welch ein tiefes liebevolles
Gemüt!  (Er nimmt Morells Platz am Tisch ein und macht es sich bequem,
indem er eine Zigarette hervorzieht.)


(Proserpina ungeduldig, nimmt den Brief, den sie auf der Maschine
geschrieben hat, und faltet ihn zusammen:)  Ach! ein Mann sollte seine
Frau lieben können, ohne einen Narren aus sich zu machen.

(Mill erregt:)  Aber Fräulein Proserpina!

(Proserpina geschäftig aufstehend, holt ein Kuvert aus dem Pulte, in
das sie, während sie spricht, den Brief hineinlegt:)  Candida hin und
Candida her und Candida überall.  (Sie leckt das Kuvert.)  Es kann
einen außer Rand und Band bringen!  (Hämmert das Kuvert, um es fest zu
schließen.)  Hören zu müssen, wie eine ganz gewöhnliche Frau in dieser
lächerlichen Weise vergöttert wird, bloß weil sie schönes Haar und
eine leidliche Figur hat.

(Mill mit vorwurfsvollem Ernst:)  Ich finde sie ungewöhnlich schön,
Fräulein Garnett.  (Er nimmt die Photographie zur Hand betrachtet sie
und fügt mit noch tieferem Ausdruck hinzu:)  Wunderbar schön,--was für
herrliche Augen sie hat!

(Proserpina.)  Candidas Augen sind durchaus nicht schöner als meine,
(Mill stellt die Photograpbie fort und sieht sie strenge an,) und ich
weiß ganz gut, daß Sie mich für ein gewöhnliches und untergeordnetes
Geschöpf halten.

(Mill erbebt sich majestätisch:)  Gott behüte, daß ich von irgendeinem
Geschöpf Gottes in dieser Weise dächte.  (Er geht steif von ihr fort
bis in die Nähe des Bücherschranks.)

(Proserpina mit bitterem Spott:)  Ich danke Ihnen, das ist sehr nett
und tröstlich.

(Mill traurig über ihre Verstocktheit:)  Ich hatte keine Ahnung, daß
Sie etwas gegen Frau Morell haben.

(Proserpina entrüstet:)  Ich habe durchaus nichts gegen sie.  Sie ist
sehr liebenswürdig und sehr gutherzig, ich habe sie sehr gern und weiß
ihre wirklich guten Eigenschaften weit besser zu würdigen, als
irgendein Mann es könnte.  (Mill schüttelt traurig den Kopf, wendet
sich zum Bücherschrank und sucht die Reihen entlang nach einem Bande.
Sie folgt ihm mit heftiger Leidenschaftlichkeit.)  Sie glauben mir
nicht?  (Er wendet sich um und blickt ihr ins Gesicht.  Sie fällt ihn
mit Heftigkeit an:)  Sie halten mich für eifersüchtig?  Was für eine
tiefe Kenntnis des menschlichen Herzens Sie haben, Herr Alexander Mill!
Wie gut Sie die Schwächen der Frauen kennen, nicht wahr?  Wie schön
es sein muß, ein Mann zu sein und einen scharfen durchdringenden
Verstand zu haben, statt bloße Gefühle, wie wir Frauen, und zu wissen,
daß die Ursache, warum wir ihr Vernarrtsein in eine Frau nicht teilen,
nur in gegenseitiger Eifersucht zu suchen sein kann.  (Sie wendet sich
mit einer Bewegung ihrer Schultern von ihm ab und geht an das Feuer,
ihre Hände zu wärmen.)

(Mill.)  Ach, wenn Ihr Frauen nur ebenso leicht den Schlüssel zur
Stärke des Mannes fändet wie zu seiner Schwäche, es gäbe keine
Frauenfrage.

(Proserpina über ihre Schulter, während sie die Hände vor die Flammen
hält:)  Wo haben Sie das von Herrn Morell gehört?  Sie selbst haben es
nicht erfunden,--Sie sind dazu nicht gescheit genug.

(Mill.)  Das ist ganz richtig.  Ich schäme mich durchaus nicht, ihm
diesen Ausspruch zu verdanken, wo ich ihm schon so viele andere
geistige Wahrheiten verdanke!  Er tat ihn bei der Jahresversammlung
der freien Frauenvereinigung.  Erlauben Sie mir hinzuzufügen, daß ich,
obwohl bloß ein Mann, im Gegensatz zu jenen Frauen diesen Ausspruch zu
schätzen wußte!  (Er wendet sich wieder an den Bücherschrank in der
Hoffnung, daß diese Worte sie vernichtet haben.)

(Proserpina ordnet ihr Haar vor den kleinen Spiegeln des Kamins:)  Wenn
Sie mit mir sprechen, sagen Sie mir gefälligst Ihre eigenen Gedanken,
soviel sie eben wert sind, und nicht die Pastor Morells.  Sie geben
niemals eine traurigere Figur ab, als wenn Sie versuchen, ihn
nachzumachen.

(Mill gekränkt:)  Ich versuche seinem Beispiel zu folgen, aber nicht,
ihn nachzumachen.

(Proserpina kommt wieder an ihn heran auf dem Rückwege zu ihrer Arbeit:)
Jawohl, Sie machen ihn nach.  Warum stecken Sie Ihren Schirm unter
den linken Arm, statt ihn in der Hand zu tragen wie jeder andere?
Warum gehen Sie mit vorgeschobenem Kinn und warum eilen Sie vorwärts
mit diesem eifrigen Ausdruck in den Augen,--Sie, der Sie nie vor halb
zehn Uhr morgens aufstehen?  Warum sagen Sie in der Kirche "Aandacht",
obwohl Sie im Leben "Andacht" sagen?  Bah--glauben Sie, ich weiß das
nicht?  (Geht zurück zur Schreibmaschine.)  Da kommen Sie her und
machen Sie sich endlich an Ihre Arbeit; wir haben heute Morgen genug
Zeit verloren.  Hier ist eine Abschrift der Tageseinteilung für heute.
(Sie reicht ihm ein Memorandum.  Mill schwer beleidigt:)  Ich danke
Ihnen.  (Er nimmt das Papier und steht mit dem Rücken gegen sie an den
Tisch gelehnt und liest.) Sie fängt an, auf der Schreibmaschine ihre
stenographischen Aufzeichnungen zu übertragen, ohne auf Mills Gefühle
zu achten.

(Burgess tritt unangemeldet ein.)  Er ist ein Mann von sechzig Jahren,
derb und filzig geworden durch die notwendige Selbstsucht des kleinen
Krämers, die sich später durch Überfütterung und geschäftlichen Erfolg
zu träger Aufgeblasenheit milderte.  Ein gemeiner, unwissender,
unmäßiger Mensch, beleidigend und hochnasig Leuten gegenüber, deren
Arbeit wohlfeil ist, ehrfürchtig gegen Menschen von Reichtum und Rang,
aber beiden gegenüber ganz aufrichtig und ohne Groll oder Neid.  Da
sie ihn ohne besondere Fähigkeiten sah, hat ihm die Welt keine andere
gut bezahlte Arbeit zu bieten gewußt, als unnoble Arbeit, und er wurde
infolgedessen etwas erbärmlich, hat aber keine Ahnung, daß er so
beschaffen ist, und betrachtet seinen kommerziellen Wohlstand ganz
ehrlich als den unvermeidlichen und sozial berechtigten Triumph der
Geschicklichkeit, Tüchtigkeit, Fähigkeit und Erfahrung eines Mannes,
der im Privatleben übertrieben, leichtsinnig, liebenswürdig und
leutselig ist.  Körperlich ist er kurz und dick, mit einer
schnauzenähnlichen Nase in der Mitte eines flachen, breiten Gesichtes;
unter dem Kinn ein staubfarbener Bart mit einem grauen Fleck in der
Mitte; er hat wässerige blaue Augen mit klagend sentimentalem Ausdruck,
der sich durch die Gewohnheit, seine Sätze wichtigtuend zu singen,
auch leicht auf seine Stimme überträgt.

(Burgess bleibt an der Schwelle stehen und blickt umher:)  Man sagte
mir, Herr Morell sei hier.

(Proserpina sich erhebend:)  Er ist oben, ich will ihn holen.

(Burgess sie frech anstarrend:)  Sie sind nicht dieselbe junge Dame,
die sonst für ihn schrieb.

(Proserpina.)  Nein.

(Burgess beistimmend:)  Nein, die war jünger.  (Fräulein Garnett starrt
ihn an, dann gebt sie mit großer Würde hinaus.  Er nimmt dies
gleichgültig entgegen und geht an den Kaminteppich, wo er sich
umwendet und sich breitspurig aufpflanzt, den Rücken dem Feuer
zugekehrt.)

(Burgess.)  Sind Sie im Begriff Ihren Rundgang zu machen, Herr Mill?

(Mill faltet sein Papier und steckt es in die Tasche:)  Jawohl, ich muß
gleich fort.

(Burgess wichtig:)  Lassen Sie sich nicht aufhalten; was ich mit Herrn
Morell zu besprechen habe, ist ganz privater Natur.

(Mill aufgeblasen:)  Ich habe durchaus nicht die Absicht, mich
einzumengen, verlassen Sie sich darauf, Herr Burgess.  Guten Morgen!

(Burgess herablassend:)  Guten Morgen, guten Morgen!

(Morell kommt zurück, während Mill sich zur Tür wendet.)

(Morell zu Mill:)  Sie gehen an die Arbeit?

(Mill.)  Jawohl, Herr Pastor.

(Morell klopft ihn liebenswürdig auf die Schulter:)  Da, nehmen Sie
mein Seidentuch um den Hals, es geht ein kalter Wind draußen.  Aber
jetzt machen Sie, daß Sie fortkommen.  (Mill, mehr als getröstet über
Burgess' Schroffheit, freut sich und geht hinaus.)

(Burgess.)  Guten Morgen, Jakob.  Sie verwöhnen Ihren Unterpfarrer wie
immer.  Wenn ich einen Mann bezahle und einer auf meine Kosten lebt,
dann weise ich ihm gehörig seinen Platz an.

(Morell etwas kurz angebunden:)  Ich weise meinem Unterpfarrer immer
seinen Platz an, nämlich an meiner Seite als meinem Helfer und
Kameraden.  Wenn es Ihnen gelingt, so viel Arbeit aus Ihren Kommis und
Angestellten herauszukriegen wie ich aus meinem Unterpfarrer, dann
müssen Sie ziemlich rasch reich werden.  Bitte, setzen Sie sich in
Ihren gewohnten Stuhl.  (Er weist mit trockener Autorität auf den
Armstuhl neben dem Kamin, dann ergreift er einen freien Stuhl und
setzt sich in zurückhaltender Entfernung von seinem Besucher.)

(Burgess ohne sich zu rühren:)  Sie sind ganz der alte, Jakob.

(Morell.)  Als Sie mich das letztemal besuchten--ich glaube, es war vor
drei Jahren--da sagten Sie genau dasselbe.  Nur etwas aufrichtiger.
Ihr wörtlicher Ausspruch war damals: "Derselbe Narr wie immer, Jakob."

(Burgess sich rechtfertigend:)  Vielleicht sagte ich das, aber (mit
versöhnender Heiterkeit:)  ich meinte nichts Beleidigendes damit.  Ein
Geistlicher hat das Privilegium, ein wenig närrisch sein zu
dürfen--wissen Sie, das liegt schon in seinem Beruf.  Einerlei, ich
bin nicht hergekommen, um alte Meinungsverschiedenheiten aufzuwärmen,
sondern um die Vergangenheit vergessen sein zu lassen.  (Er wird
plötzlich sehr feierlich und nähert sich Morell.)  Jakob, vor drei
Jahren haben Sie mir übel mitgespielt.  Sie haben mich um meine
Lieferungen gebracht, und als ich Ihnen in meiner erklärlichen
Verzweiflung böse Worte gab, brachten Sie meine Tochter gegen mich auf.
Nun, ich bin gekommen, um Ihnen zu zeigen, daß ich ein guter Christ
bin.  (Ihm seine Hand darreichend:)  Ich verzeihe Ihnen, Jakob.

(Morell auffahrend:)  Verdammt frech!

(Burgess weicht zurück mit fast schluchzendem Vorwurf über diese
Behandlung:)  Ziemt diese Sprache einem Pastor, Jakob?  Und besonders
Ihnen?

(Morell bitzig:)  Nein, sie ziemt ihm nicht, ich habe das falsche Wort
gebraucht,--ich hätte sagen sollen: "Der Teufel soll Ihre Frechheit
holen!" Das würde Ihnen der heilige Paulus und jeder andere brave
Priester gesagt haben.  Glauben Sie, ich habe Ihr Anerbieten vergessen,
als Sie für das Armenhaus vertragsmäßig Kleider liefern sollten?

(Burgess in höchster Erbitterung, weil ihm seine Forderung nur recht
und billig erscheint:)  Ich habe im Interesse der Steuerzahler
gehandelt, Jakob,--es war das niedrigste Angebot, das können Sie nicht
leugnen.

(Morell.)  Jawohl, das niedrigste, weil Sie schlechtere Löhne zahlten
als irgendein anderer Unternehmer--Hungerlöhne,--ach, ärger als
Hungerlöhne war die Bezahlung, die Sie den Frauen für ihre Näharbeit
geboten haben.  Ihre Löhne hätten die Armen auf die Straße getrieben,
um Leib und Seele zu verkaufen.  (Immer wütender werdend:)  Jene Frauen
waren aus meinem Kirchsprengel, ich habe die Armenpfleger dazu
gebracht, daß sie sich schämten, Ihr Angebot anzunehmen, ich habe die
Steuerzahler dazu gebracht, daß sie sich schämten, es zuzulassen, ich
habe jeden bis auf Sie dazu gebracht, sich deswegen zu schämen.
(Überschäumend vor Wut:)  Wie können Sie es wagen, Herr,
hierherzukommen und mir etwas vergeben zu wollen und über Ihre Tochter
zu sprechen und...

(Burgess.)  Beruhigen Sie sich, Jakob,--still, still, regen Sie sich
nicht für nichts und wieder nichts so auf.  Ich habe ja zugegeben, daß
ich unrecht hatte.

(Morell wütend:)  Haben Sie das?  Ich habe nichts davon bemerkt!

(Burgess.)  Natürlich gab ich's zu, so wie ich's noch jetzt zugebe.  Na,
ich bitte Sie um Verzeihung wegen des Briefes, den ich Ihnen
geschrieben habe,--genügt Ihnen das?

(Morell mit den Fingern schnalzend:)  Ganz und gar nicht!  Haben Sie
die Löhne erhöht?

(Burgess triumphierend:)  Ja!

(Morell verblüfft innehaltend:)  Was?

(Burgess salbungsvoll:)  Ich bin das Muster eines Arbeitgebers geworden.
Ich beschäftige keine Frauen mehr, sie haben alle den Laufpaß
bekommen, und die Arbeit wird jetzt durch Maschinen verrichtet.  Nicht
ein Mann verdient jetzt weniger als sechs Pence die Stunde, und die
alten geübten Arbeiter bekommen die von den Gewerkschaften
festgesetzten Löhne.  (Stolz:)  Was sagen Sie jetzt?

(Morell überwältigt:)  Ist das möglich?  Na, es ist mehr Freude im
Himmel über einen Sünder, der Buße tut--(Er geht auf Burgess zu mit
einem Ausbruch entschuldigender Herzlichkeit.)  Mein lieber Burgess,
ich bitte Sie herzlichst um Verzeihung wegen der schlechten Meinung,
die ich von Ihnen hatte.  (Seine Hand fassend:)  Und fühlen Sie sich
nicht wohler nach dieser Veränderung?  Gestehen Sie es!  Sie sind
glücklicher, Sie sehen glücklicher aus.

(Burgess kläglich:)  Na ja, vielleicht fühle ich mich jetzt glücklicher,
ich muß wohl, da Sie es bemerken.  Tatsache ist, daß mein Angebot von
der Behörde angenommen wurde.  (Wild:)  Sie wollte nichts mit mir zu
schaffen haben, ehe ich anständige Löhne zahlte--der Teufel soll
diese verdammten Narren holen, die ihre Nase in alles stecken müssen!

(Morell läßt seine Hand fahren, aufs tiefste entmutigt:)  Das ist also
der Grund, warum Sie die Löhne erhöht haben!  (Er setzt sich
niedergeschlagen.)

(Burgess streng, anmaßend, lauter werdend:)  Weswegen sollt' ich es
sonst getan haben?  Wohin anders führt es, als zu Trunksucht und
Ausschweifungen?  (Er setzt sich wie ein Richter in den großen
Lehnstuhl.)  Das ist alles sehr schön und gut für Sie: es bringt Sie in
die Zeitungen und macht Sie zu einem berühmten Manne; aber Sie denken
nie an den Schaden, den Sie anrichten, indem Sie die Taschen der
Arbeiter mit Geld anfüllen, das sie doch nicht vernünftig auszugeben
verstehen, während Sie es Leuten fortnehmen, die gute Verwendung dafür
hätten.

(Morell nach einem schweren Seufzer, mit kalter Höflichkeit:)  Was
wollen Sie also heute von mir?  Ich bilde mir nicht ein, daß nur
verwandtschaftliche Gefühle Sie herführen.

(Burgess hartnäckig:)  Doch--gerade verwandtschaftliche Gefühle und
nichts anderes!

(Morell mit müder Ruhe:)  Das glaub' ich Ihnen nicht.

(Burgess springt drohend auf:)  Sagen Sie mir das nicht ein zweites Mal,
Jakob Morell!

(Morell unerschütterlich:)  Ich werde es genau so oft sagen, als es
nötig ist, Sie davon zu überzeugen.--Das glaub' ich Ihnen nicht.

(Burgess versinkt in einen Zustand von tief verwundetem Gefühl:)  Nun
gut, wenn Sie durchaus unfreundlich sein wollen, dann ist es wohl am
besten, ich gehe.  (Er bewegt sich zögernd gegen die Tür, Morell gibt
kein Zeichen.  Burgess zögert noch.)  Ich habe nicht erwartet, Sie
unversöhnlich zu finden, Jakob.  (Da Morell noch immer nicht antwortet,
macht er noch einige zögernde Schritte nach der Tür, dann kommt er
zurück, jammernd:)  Wir haben uns doch immer ganz gut vertragen, trotz
unserer verschiedenen Anschauungen, warum sind Sie mir gegenüber jetzt
so verändert?  Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich bloß aus Freundschaft
hergekommen bin und nicht, um mich mit dem Manne meiner eigenen
Tochter auf schlechten Fuß zu stellen.  Seien Sie doch ein Christ,
Jakob, reichen Sie mir Ihre Hand.  (Er legt seine Hand sentimental auf
Morells Schulter.)

(Morell blickt nachdenklich zu ihm auf.)  Schauen Sie, Burgess, wollen
Sie hier ebenso willkommen sein, wie Sie es waren, ehe Sie Ihren
Vertrag verloren?

(Burgess.)  Jawohl, Jakob, das möchte ich wirklich.

(Morell.)  Warum benehmen Sie sich dann nicht wie damals?

(Burgess nimmt seine Hand behutsam weg:)  Wie meinen Sie das?

(Morell.)  Das will ich Ihnen sagen.  Damals hielten Sie mich für einen
jungen Dummkopf!

(Burgess schmeichelnd:)  Nein, dafür habe ich Sie nicht gehalten, ich--

(Morell ihn unterbrechend:)  Ja, dafür hielten Sie mich!  Und ich hielt
Sie für einen alten Schurken.

(Burgess will diese schwere Selbstanklage Morells heftig abwehren:)
Nein, das haben Sie nicht getan, Jakob.  Jetzt tun Sie sich selbst
unrecht.

(Morell.)  Doch, das tat ich.  Na, das hat aber nicht gehindert, daß
wir ganz gut miteinander ausgekommen sind.  Gott hat aus Ihnen das
gemacht, was ich einen Schurken nenne, und aus mir das, was Sie eben
einen Dummkopf nennen.  (Diese Bemerkung erschüttert die Grundfesten
von Burgess' Moral.  Ihm wird schwach, und während er Morell hilflos
anblickt, streckt er die Hand ängstlich aus, um sein Gleichgewicht zu
bewahren, als ob der Boden unter ihm wankte.  Morell fährt im selben
Tone ruhiger Überzeugung fort:)  Es ist in beiden Fällen nicht meine
Sache, mit Gott darüber zu rechten.  Solange Sie offen als ein sich
selbst achtender, echter, überzeugter Schurke hierherkommen und, stolz
darauf, Ihre Schurkereien zu rechtfertigen versuchen, sind Sie
willkommen.  Aber (und nun wird Morells Ton furchtbar; er erhebt sich
und stützt sich zur Bekräftigung mit der Faust auf die Rückenlehne des
Stuhles:)  ich mag Sie hier nicht herumschnüffeln haben, wenn Sie so
tun, als ob Sie das Muster eines Arbeitgebers wären und ein bekehrter
Mann dazu, während Sie nur ein Abtrünniger sind, der seinen Rock nach
dem Winde trägt, um einen Vertrag mit der Behörde zustande zu bringen.
(Er nickt ihm zu, um seiner Rede Nachdruck zu verleihen, dann geht er
zum Kamin, wo er in bequemer Kommandostellung, mit dem Rücken gegen
das Feuer gekehrt, lehnt und fortfährt:)  Nein, ich liebe es, wenn ein
Mensch wenigstens sich selber treu bleibt, selbst im Bösen!  Also,
nehmen Sie jetzt entweder Ihren Hut und gehen Sie, oder setzen Sie
sich und geben Sie mir einen guten, schurkischen Grund dafür an, warum
Sie mein Freund sein wollen.  (Burgess, dessen Erregung sich genügend
gelegt hat, um in einem Grinsen ausgedrückt werden zu können, fühlt
sich durch diesen konkreten Vorschlag sichtlich erleichtert.  Er
überlegt einen Augenblick, und dann setzt er sich langsam und sehr
bescheiden in den Stuhl, den Morell eben verlassen hat.)  So ist's
recht,--nun heraus damit.

(Burgess kichernd gegen seinen Willen:)  Nein, Sie sind wirklich ein
sonderbarer Kauz, Jakob!  (Beinahe enthusiastisch:)  Aber man muß Sie
gern haben, ob man will oder nicht.  Außerdem nimmt man, wie ich schon
sagte, nicht jedes Wort eines Geistlichen für bare Münze, sonst müßte
die Welt untergehn.  Habe ich nicht recht?  (Er faßt sich, um einen
ernsteren Ton anzuschlagen, und die Augen auf Morell gerichtet, fährt
er mit eintönigem Ernste fort:)  Nun, meinetwegen, da Sie es wünschen,
daß wir gegeneinander ehrlich sind, will ich Ihnen zugeben, daß ich
Sie--ein wenig--für einen Narren hielt; aber ich fange an zu glauben,
daß ich damals etwas hinter meiner Zeit zurückgeblieben war.

(Morell frohlockend:)  Aha, haben Sie das endlich herausgefunden?

(Burgess bedeutungsvoll:)  Ja, die Zeiten haben sich mehr verändert,
als man glauben sollte!  Vor fünf Jahren noch hätte sich kein
vernünftiger Mensch mit Ihren Ideen abgegeben.  Ich wunderte mich
sogar, daß man Sie auf Ihrem Posten als Pastor beließ.  Ich kenne
einen Geistlichen, der durch den Bischof von London auf Jahre hinaus
seiner Funktionen enthoben wurde, obwohl der arme Teufel nicht einen
Funken mehr religiös war als Sie.  Aber wenn heute jemand mit mir um
tausend Pfund wetten wollte, daß Sie selbst noch einmal als Bischof
enden werden, ich würde die Wette nicht anzunehmen wagen.  (Sehr
eindrucksvoll:)  Sie und Ihre Sippschaft werden täglich einflußreicher,
wie ich überall merke.  Man wird Sie einmal irgendwie befördern müssen,
und wäre es bloß, um Ihnen den Mund zu stopfen.  Sie haben doch den
richtigen Instinkt gehabt, Jakob!  Der Weg, den Sie eingeschlagen
haben, ist der einträglichste für einen Mann Ihres Schlages.

(Morell reicht ihm jetzt die Hand mit fester Entschlossenheit:)  Hier
meine Hand, Burgess, jetzt reden Sie ehrlich.  Ich glaube nicht, daß
man mich zum Bischof ernennen wird; aber wenn es geschieht, dann will
ich Sie mit den größten Spekulanten bekannt machen, die ich zu meinen
Diners bekommen kann.

(Burgess der sich mit einem verschmitzten Grinsen erhoben und die
Freundschaftshand ergriffen hat:)  Sie bleiben nun mal bei Ihrem Witz,
Jakob.  Unser Streit ist jetzt beigelegt, nicht wahr?

(Die Stimme einer Frau.)  Sag "Ja", Jakob!

(Erstaunt wenden sie sich um und bemerken, daß Candida eben
eingetreten ist und sie mit jener belustigten, mütterlichen Nachsicht
betrachtet, die ihr charakteristischer Gesichtsausdruck ist.  Sie ist
eine Frau von dreiunddreißig Jahren, schön gewachsen, gut genährt.
Man errät, daß sie später eine Matrone sein wird, aber jetzt steht sie
noch in ihrer Blüte, mit dem Doppelreiz der Jugend und der
Mutterschaft.  Ihr Benehmen ist das einer Frau, die erfahren hat, daß
sie die Menschen immer lenken kann, wenn sie ihre Neigung gewinnt, und
die dies unbekümmert offen und instinktiv tut.  In diesem Punkte ist
sie wie jede andere hübsche Frau, die gerade klug genug ist, aus ihrer
weiblichen Anziehungskraft zu alltäglich selbsttüchtigen Zwecken so
viel Kapital wie möglich zu schlagen.  Aber Candidas heitere Stirn und
ihre mutigen Augen, der schön geformte Mund und ihr Kinn kennzeichnen
umfassenden Geist und Würde des Charakters, der ihre Schlauheit im
Gewinnen von Neigungen adelt.  Ein kluger Beobachter würde, sie
betrachtend, sofort erraten, daß wer das Bild der Assunta auch über
ihren Kamin gehängt haben mochte, ein seelisches Band zwischen den
beiden Frauengestalten geahnt hatte, obwohl er weder ihrem Manne, noch
ihr selbst den Gedanken zutraute, sie mit der Kunst Tizians irgendwie
in Zusammenhang zu bringen.--Sie ist in Hut und Mantel und hat eine
zusammengeschnürte Reisedecke, durch die ihr Schirm gesteckt ist, eine
Handtasche und eine Menge illustrierter Zeitungen in den Händen.)

(Morell über seine Nachlässigkeit erschrocken:)  Candida!  Ei nun!--(Er
sieht auf seine Uhr und ist entsetzt, daß es schon so spät ist.)  Mein
Schatz!  (Er eilt ihr entgegen und nimmt ihr die Reisedecke ab, indem
er fortfährt, sein reumütiges Bedauern hervorzusprudeln:)  Ich hatte
die Absicht, dich von der Bahn abzuholen, aber ich bemerkte nicht, daß
die Zeit schon um war, (die Reisedecke aufs Sofa werfend:)  ich war so
sehr in Anspruch genommen--(Wieder zu ihr kommend:)  daß ich das
vergaß--oh!  (Er umarmt sie mit reumütiger Ergriffenheit.)

(Burgess etwas beschämt und ungewiß, wie er von seiner Tochter
empfangen werden wird:) Wie geht es dir, Candy?  (Candida, noch in
Morells Armen, bietet ihm ihre Wange, die er küßt:)  Jakob und ich sind
zu einer Verständigung gekommen--zu einer ehrenvollen Verständigung.
Nicht wahr, Jakob?

(Morell heftig:)  Reden Sie nicht von unserer Verständigung!
Ihretwegen habe ich versäumt, Candida abzuholen.

(Teilnahmsvoll:)  Du arme Liebe, wie bist du nur mit deinem Gepäck
fertig geworden?  Wie--

(Candida unterbricht ihn und macht sich los:)  Na, na, na! ich war
nicht allein.  Eugen ist mit uns gekommen--wir sind zusammen
hergefahren.

(Morell erfreut:)  Eugen?!

(Candida.)  Ja.  Er plagt sich eben mit meinem Gepäck ab, der arme
Junge.  Ich bitte dich, lieber Jakob, geh gleich hinunter, sonst
bezahlt er den Wagen, und das möchte ich nicht.  (Morell eilt hinaus.
Candida stellt ihre Handtasche nieder, nimmt dann ihren Mantel und Hut
ab und legt sie auf das Sofa neben die Decke und plaudert inzwischen.)
Nun, Papa, wie geht's zu Hause?

(Burgess.)  Es lohnt sich nicht mehr, dort zu leben, seit du uns
verlassen hast, Candy.  Ich wollte, du kämst einmal, um nachzusehn und
mit dem Mädchen zu sprechen.--Wer ist dieser Eugen, der dich begleitet
hat?

(Candida.)  Oh, Eugen ist eine von Jakobs Entdeckungen.  Er fand ihn im
verflossenen Juni schlafend auf dem Kai.  Hast du unser neues Bild
nicht bemerkt?  (Ruf das Bild der Assunta zeigend:)  Das haben wir von
ihm.

(Burgess ungläubig:)  Was soll das heißen?  Willst du mir, deinem
eigenen Vater, etwa einreden, daß ein Landstreicher, den man schlafend
auf dem Kai findet, solche Bilder schenkt?  (Strenge:)  Betrüg mich
nicht, Candy; es ist ein katholisches Bild, und Jakob hat es selbst
gekauft.

(Candida.)  Du irrst.  Eugen ist kein Landstreicher.

(Burgess.)  Was ist er denn?  (Sarkastisch:)  Ein Edelmann
wahrscheinlich?

(Candida nickt belustigt:)  Jawohl, sein Onkel ist ein Pair--ein
wirklicher, leibhaftiger Graf.

(Burgess wagt es nicht, so eine gute Nachricht zu glauben:)  Nein!

(Candida.)  Ja!  Er trug einen Wechsel auf fünfundfünfzig
Pfund--zahlbar in acht Tagen--in der Tasche, als Jakob ihn am Kai fand.
Er dachte, daß er dafür kein Geld bekommen könnte, bevor die acht
Tage um wären, und er war zu schüchtern, Kredit zu verlangen.  Oh, er
ist ein lieber Junge, wir haben ihn sehr gern.

(Burgess der so tut, als verachte er die Aristokraten, aber mit
glänzenden Augen:)  Hm, ich dachte mir's, daß der Neffe eines Pairs
nicht bei euch im Viktoriapark zu Besuch sein würde, wenn er nicht ein
bißchen verrückt wäre.  (Er blickt wieder auf das Bild.)  Ich bin
natürlich mit dem Vorwurf dieses Bildes, als strenggläubiger
Protestant, nicht einverstanden, Candy; aber daß es ein erstklassiges,
großes Kunstwerk ist, das habe ich sofort erkannt.  Nicht wahr, du
stellst mich ihm vor, Candy?  (Er sieht ängstlich auf seine Uhr.)  Ich
kann aber höchstens noch zwei Minuten bleiben.

(Morell kommt mit Eugen zurück, den Burgess mit feuchten Augen
begeistert anstarrt.  Eugen ist ein seltsamer, scheuer Jüngling von
achtzehn Jahren, schlank, weibisch, mit einer zarten, kindlichen
Stimme, einem gehetzten, gequälten Ausdruck und mit einem Benehmen,
das die schmerzliche Empfindlichkeit sehr schnell und plötzlich
gereifter Knaben kennzeichnet, bevor ihr Charakter volle Festigkeit
erreicht hat.  Erbärmlich unentschlossen, weiß er nie, wo er stehen
und was er tun soll.  Burgess erschreckt ihn, und er möchte am
liebsten fort von ihm in die Einsamkeit laufen, wenn er es wagte.
Aber die Intensität, mit der er eine so ganz gewöhnliche Lage
empfindet, zeugt doch nur von seiner übergroßen nervösen Kraft; und
seine Nasenflügel, sein Mund und seine Augen verraten einen
leidenschaftlich ungestümen Eigensinn, über dessen äußersten Grad
seine Stirne, die schon vom Mitleid gefurcht ist, wieder beruhigt.  Er
sieht absonderlich aus, beinahe wie nicht von dieser Welt--und
prosaische Leute sehen etwas Ungesundes in dieser überirdischen Art,
so wie poetische Menschen darin etwas Engelgleiches sehen.  Seine
Kleidung ist ganz frei; er trägt ein altes Jakett aus blauem Serge,
aufgeknöpft, über einem wollenen Lawn-Tennis-Hemd, mit einem seidenen
Halstuch als Krawatte, zu dem Jackett passende Beinkleider und braune
Schuhe aus Segeltuch.  In diesem Aufzuge hat er augenscheinlich im
Heidekraut gelegen und ist durch das Wasser gewatet; es ist auch nicht
ersichtlich, daß er die Kleider jemals abgebürstet hat.  Da er beim
Eintritt einen Fremden sieht, hält er inne und drückt sich längs der
Wand nach der entgegengesetzten Seite des Zimmers weiter.)

(Morell beim Eintreten:)  Kommen Sie.  Sie haben sicher doch eine
Viertelstunde für uns übrig.  Das ist mein Schwiegervater, Herr
Burgess--Herr Marchbanks.

(Marchbanks weicht geängstigt gegen den Bücherschrank zurück:)  Sehr
angenehm--

(Burgess geht mit großer Herzlichkeit auf ihn zu, während Morell vor
den Kamin zu Candida tritt:)  Es freut mich sehr, Sie kennen zu lernen,
Herr Marchbanks.  (Nötigt ihn, ihm die Hand zu geben.)  Wie geht es
Ihnen bei diesem Wetter?  Ich hoffe, Jakob versucht nicht, Ihnen
verrückte Ideen in den Kopf zu setzen.

(Marchbanks.)  Verrückte Ideen?  Ach, Sie meinen sozialistische?  Nein,
o nein!

(Burgess.)  Das ist recht.  (Sieht wieder auf seine Uhr.)  Na, jetzt muß
ich aber gehen, da ist nichts zu machen.  Haben Sie vielleicht
denselben Weg, Herr Marchbanks?

(Marchbanks.)  Nach welcher Richtung gehen Sie?

(Burgess.)  Station Viktoriapark.  Um zwölf Uhr fünfundzwanzig geht ein
Zug nach der City.

(Morell.)  Unsinn, Eugen, Sie frühstücken doch hoffentlich mit uns!

(Marchbanks sich ängstlich entschuldigend:)  Nein, ich--ich--

(Burgess.)  Nun, ich will Ihnen nicht zureden.  Ich wette, daß Sie es
vorziehen, mit Candy zu frühstücken.  Ich hoffe aber, dafür werden Sie
eines Abends im Bürgerklub in Norton Folgate mit mir dinieren,--bitte,
sagen Sie zu!

(Marchbanks.)  Ich danke Ihnen, Herr Burgess.  Wo ist Norton
Folgate?--Unten in Surrey, nicht wahr?

(Burgess, unaussprechlich belustigt, fängt zu lachen an.)

(Candida zu Hilfe kommend:)  Du wirst deinen Zug versäumen, Papa, wenn
du nicht sofort gehst; komm am Nachmittag wieder und erkläre Herrn
Marchbanks dann, wie man nach dem Klub gelangt.

(Burgess mit schallendem Gelächter:)  In Surrey, ha ha, das ist nicht
schlecht!  Nun, ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der nicht
Norton Folgate gekannt hätte.

(Betroffen über den Lärm seiner eigenen Stimme:)  Leben Sie wohl, Herr
Marchbanks; ich weiß, Sie sind zu vornehm, um meinen Scherz schlecht
aufzufassen.  (Er reicht ihm abermals die Hand.)

(Marchbanks erfaßt sie mit nervösem Griff.)  O bitte, bitte!

(Burgess.)  Adieu, adieu, Candy.  Ich werde später wiederkommen--auf
Wiedersehen, Jakob.

(Morell.)  Müssen Sie wirklich gehen?

(Burgess.)  Laßt euch nicht stören.  (Er gebt mit unverminderter
Herzlichkeit hinaus.)

(Morelt.)  Ich werde Sie hinausbegleiten.  (Er folgt ihm, Eugen starrt
ihnen ängstlich nach und hält seinen Atem an, bis Burgess verschwunden
ist.)

(Candida lachend:)  Nun, Eugen?  (Er wendet sich mit einem Ruck um und
kommt heftig auf sie zu, hält aber unschlüssig inne, als er ihren
belustigten Blick bemerkt.)  Wie gefällt Ihnen mein Vater?

(Marchbanks.)  Ich--ich kenne ihn doch kaum,--er scheint ein sehr
lieber alter Herr zu sein.

(Candida mit leiser Ironie:)  Und Sie werden seine Einladung in den
Bürgerklub annehmen, nicht wahr?

(Marchbanks unglücklich, es für Ernst nehmend:)  Gerne, wenn Sie es
wünschen.

(Candida gerührt:)  Wissen Sie, daß Sie ein sehr lieber Junge sind,
Eugen, trotz all Ihrer Sonderlichkeiten.  Wenn Sie meinen Vater
ausgelacht hätten, so wäre nichts dabei gewesen, aber es gefällt mir
um so besser von Ihnen, daß Sie nett zu ihm waren.

(Marchbanks.)  Hätte ich lachen sollen?  Mir war, als ob er etwas
scherzhaftes sagte, aber ich fühle mich Fremden gegenüber so bedrückt,
und ich kann Witze nie verstehen.  Es tut mir sehr leid.  (Er setzt
sich auf das Sofa, die Ellbogen auf den Knien und die Schläfen
zwischen den Fäusten, mit dem Ausdruck hoffnungslosen Leidens.)

(Candida heitert ihn gutmütig auf:)  Oh, Sie großes Kind,--Sie sind
heute noch ärger als sonst.  Warum waren Sie auf der Fahrt in der
Droschke so melancholisch?

(Marchbanks.)  Oh, das war nichts.  Ich dachte darüber nach, wieviel
ich dem Kutscher geben sollte.  Ich weiß, es ist äußerst dumm, aber
Sie wissen nicht, wie schrecklich mir solche Dinge sind,--wie ich mich
davor scheue, mit fremden Leuten zu unterhandeln.  (Frisch und
beruhigend:)  Aber jetzt ist alles gut.  Er lachte mit dem ganzen
Gesicht und berührte seinen Hut, als Ihr Mann ihm zwei Schilling gab;
ich war im Begriff, ihm zehn zu bieten.  (Candida lacht herzlich,
Morell kommt mit einigen Briefen und Zeitungen zurück, die mit der
Mittagspost gekommen sind.)

(Candida.)  Oh, lieber Jakob, denke nur, er wollte dem Kutscher zehn
Schilling geben,--zehn Schilling für eine Fahrt von drei Minuten, was
sagst du?

(Morell vor dem Tisch die Briefe überfliegend:)  Machen Sie sich nichts
daraus, Marchbanks.  Der Trieb, zuviel zu bezahlen, ist ein Beweis von
Großmut und viel besser als der entgegengesetzte, und nicht so
gewöhnlich.

(Marchbanks wieder in Niedergeschlagenheit verfallend:)  Nein, Feigheit,
Untauglichkeit ist das.  Frau Morell hat ganz recht.

(Candida.)  Gewiß hat sie recht.  (Sie nimmt ihre Handtasche auf.)  Und
nun muß ich Sie Jakob überlassen.  Ich nehme an, Sie sind zu sehr Poet,
um sich den Zustand vorstellen zu können, in dem eine Frau ihr Haus
wiederfindet, wenn sie drei Wochen fortgewesen ist.  Geben Sie mir
meine Decke.  (Eugen nimmt die eingeschnallte Decke vom Sofa und gibt
sie ihr; sie nimmt sie in die linke Hand, da sie ihre Tasche in der
rechten hält.)  Nun, bitte, hängen Sie mir den Mantel über den Arm.
(Er gehorcht.)  Nun meinen Hut.  (Er gibt ihn ihr in die Hand, die das
Gepäck hält.)  Nun öffnen sie mir die Tür.--(Er läuft ihr voraus und
öffnet die Tür.)   Danke.  (Sie geht hinaus, und Marchbanks schließt sie
hinter ihr wieder.)

(Morell noch am Tisch beschäftigt:)  Sie bleiben selbstverständlich zum
Frühstück bei uns, Marchbanks.

(Marchbanks erschreckt:)  Ach, ich darf nicht.  (Er sieht rasch nach
Morell hin, weicht aber plötzlich seinem vollen Blick aus und fügt mit
sichtlicher Unaufrichtigkeit hinzu:)  Ich meine, ich kann nicht.

(Morell.)  Sie meinen, Sie wollen nicht.

(Marchbanks ernst:)  Nein, ich möchte wirklich gerne, ich danke Ihnen
sehr, aber--aber--

(Morell leichthin, beendigt seinen Brief und tritt dicht an Eugen
heran:)  Aber--aber--aber--aber!  Unsinn!  Wenn Sie bleiben wollen,
dann bleiben Sie,--Sie werden mich doch nicht überzeugen wollen, daß
Sie irgend etwas anderes zu tun haben?  Wenn Sie schüchtern sind,
machen Sie einen Spaziergang durch den Park und schreiben bis halb
zwei Uhr Gedichte, und dann kommen Sie wieder und essen tüchtig.

(Marchbanks.)  Ich danke Ihnen.  Ich würde das sehr gern tun, aber ich
darf wirklich nicht.  Die Wahrheit ist, daß mir Frau Morell gesagt hat,
daß ich's lieber nicht tun sollte.  Sie sagte, sie glaube nicht, daß
Sie mich zum Frühstück einladen würden, aber wenn Sie es täten, dann
wünschten Sie es doch nicht ernstlich.  (Schmerzlich:)  Sie sagte, ich
würde das schon verstehen, aber ich verstehe es nicht.--Bitte, sagen
Sie ihr nichts davon, daß ich es Ihnen wiedererzählt habe.

(Morell belustigt:)  Oh, ist das alles?  Was halten Sie von meinem
Vorschlag, in den Park zu gehen und diese Frage damit zu erledigen?
                
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