(Napoleon.) Braucht Sie das zu hindern?
(Dame.) Also, das ist es: ich bete einen Mann an, der sich nicht
fürchtet, gemein und selbstsüchtig zu sein.
(Napoleon entrüstet:) Ich bin weder gemein noch selbstsüchtig!
(Dame.) Oh, Sie tun sich selbst unrecht. Überdies, ich meine ja
nicht wirklich gemein und selbstsüchtig.
(Napoleon.) Ich danke Ihnen--ich dachte, Sie meinten es vielleicht
doch!
(Dame.) Na ja, natürlich mein' ich es auch in gewissem Sinne. Aber
was ich bewundere, das ist eine gewisse starke Einfachheit in Ihnen.
(Napoleon.) Das klingt schon besser.
(Dame.) Sie wollten die Briefe nicht lesen; aber Sie waren neugierig,
zu wissen, was darinnen steht. Sie gingen also in den Garten und
lasen sie, als niemand zusah, und kamen dann zurück und taten so, als
ob Sie sie nicht gelesen hätten. Das ist wohl das gemeinste, was ich
jemals einen Mann habe tun sehen; aber es erfüllte gerade Ihren Zweck,
und so haben Sie sich nicht im geringsten geschämt oder gefürchtet, es
zu tun.
(Napoleon kurz angebunden:) Wo haben Sie all diese niedrigen Skrupeln
aufgelesen?--(Mit verachtungsvollem Nachdruck:) Dieses "Ihr Gewissen"?
Ich habe Sie für eine Dame gehalten--eine Aristokratin. Bitte, war
Ihr Großvater vielleicht ein Krämer?
(Dame.) Nein, er war Engländer.
(Napoleon.) Das erklärt alles. Die Engländer sind eine Nation von
Krämern. Nun begreife ich, warum Sie mich besiegt haben.
(Dame.) Aber, ich habe Sie nicht besiegt--und ich bin keine
Engländerin.
(Napoleon.) Doch, das sind Sie! Englisch bis in die Fingerspitzen.
Hören Sie mir zu, ich will Ihnen die Engländer erklären.
(Dame erpicht darauf, es sru hören:) Ich bitte. (Mit gespannter Miene
einen intellektuellen Genuß erwartend, setzt sie sich auf das Sofa und
bereitet sich vor, ihm zuzuhören. Seines Publikums sicher, rafft sich
Napoleon sofort zu einer Vorstellung auf. Er überlegt ein bißchen,
bevor er beginnt, um ihre Aufmerksamkeit durch eine Pause zu erhöhen.
Anfangs ahmt er den Stil Talmas in Corneilles "Cinna" nach, aber in
der Dunkelheit geht etwas davon verloren, und Talma macht bald
Napoleon Platz, dessen Stimme mit überraschender Heftigkeit durch die
Dämmerung bricht.)
(Napoleon.) Es gibt dreierlei Menschen auf Erden: die Kleinen, die
Mittleren und die Großen. Die Kleinen und die Großen sind einander in
einem Punkte gleich: sie haben keinerlei Skrupel, keinerlei Moral,
--die Kleinen stehen tief unter der Moral, die Großen hoch über ihr.
Ich fürchte sie beide nicht! Denn die Kleinen sind skrupellos, ohne
Wissen--sie machen mich deshalb zu ihrem Abgott; die Großen sind
ebenso skrupellos, ohne starkes Wollen, sie beugen sich deshalb vor
meinem Willen. Sehen Sie: ich werde über all das niedere Volk und
über all die Höfe Europas hinweggehen wie die Pflugschar über ein
Ackerfeld. Die Mittelklasse aber, die ist gefährlich. Sie besitzt
beides: Wissen and Wollen. Aber auch sie hat ihre schwache Seite: das
Gewissen. Sie ist voller Skrupel,--an Händen and Füßen durch Moral
und Ehrenhaftigkeit gefesselt.
(Dame.) Dann werden Sie die Engländer überholen; denn alle Krämer
gehören zur Mittelklasse.
(Napoleon.) Nein! Denn die Engländer sind eine Rasse für sich. Kein
Engländer steht zu tief, um Skrupel zu haben, und keiner hoch genug,
um von ihrer Tyrannei befreit zu sein. Aber jeder Engländer kommt mit
einem wunderbaren Talisman zur Welt, der ihn zum Herrn der Erde macht.
Wenn der Engländer etwas will, gesteht er sich nie ein, daß er es
will. Er wartet geduldig, bis in ihm--Gott weiß wie--die tiefe
Überzeugung erwacht, daß es seine moralische und religiöse Pflicht sei,
diejenigen zu unterwerfen, die das haben, was er will. Dann wird er
unwiderstehlich. Wie der Aristokrat, tut er, was ihm gefällt, und
schnappt nach dem, wonach ihn gelüstet. Wie der Krämer, verfolgt er
seinen Zweck mit dem Fleiß und der Beharrlichkeit, die von starker,
religiöser Überzeugung und dem tiefen Sinn für moralische
Verantwortlichkeit herrühren. Er ist nie in Verlegenheit um eine
wirksame, moralische Pose. Als großer Vorkämpfer der Freiheit und der
nationalen Unabhängigkeit erobert er die halbe Welt, ergreift Besitz
von ihr und nennt das "Kolonisation". Wenn er einen neuen Markt für
seine schlechten Manchesterwaren braucht, schickt er Missionäre aus,
die den Wilden das Evangelium des Friedens verkünden müssen. Die
Wilden töten den Missionar; nun eilt er zu den Waffen, zur
Verteidigung des Christentums, kämpft and siegt für seinen Glauben und
nimmt als göttliche Belohnung den Markt in Besitz. Zur Verteidigung
seiner Inselgestade nimmt er einen Schiffsgeistlichen an Bord, nagelt
eine Flagge mit einem Kreuz an den Hauptmast and segelt so bis ans
Ende der Welt, und bohrt in den Grund, verbrennt und zerstört alles,
was ihm die Herrschaft auf dem Meere streitig macht. Er prahlt damit,
daß jeder Sklave frei werde, sobald sein Fuß britischen Boden betritt;
dabei verkauft er die Kinder seiner Armen, kaum daß sie sechs Jahre
alt sind, an Fabrikherren und läßt sie täglich sechzehn Stunden
unter der Peitsche Sklavenarbeit verrichten. Er macht zwei
Revolutionen und erklärt dann im Namen des Gesetzes und der Ordnung
der unsern den Krieg. Nichts ist so schlecht und nichts so gut, daß
Sie es einen Engländer nicht werden vollbringen sehen, aber Sie werden
einem Engländer niemals beweisen können, daß er im Unrecht ist. Denn
er tut alles aus Grundsatz. Er führt Krieg aus patriotischem
Grundsatz, er betrügt aus geschäftlichem Grundsatz, er macht freie
Völker zu Sklaven aus reichspolitischem Grundsatz, er behandelt Euch
grob aus männlichem Grundsatz, er hält treu zu seinem Könige aus
loyalem Grundsatz und schlägt seinem Könige aus republikanischem
Grundsatz den Kopf ab. Seine Losung ist dabei immer nur seine
"Pflicht." Und er vergißt nie, daß die Nation verloren ist, die ihre
Pflicht dort sucht, wo nicht ihr Vorteil zu finden ist. Er...
(Dame.) Uh! uh! uh! Halten Sie einen Augenblick inne! Ich möchte
wissen, wie Sie auf Grund dieser Beobachtungen aus mir eine
Engländerin machen wollen.
(Napoleon seinen rhetorischen Stil fallen lassend:) Das ist einfach
genug. Sie wollten einige Briefe, die mir gehörten. Sie haben den
Morgen damit verbracht, sie zu stehlen... jawohl, sie zu
stehlen--durch Straßenraub. Und Sie haben den Nachmittag damit
verbracht, mich darüber ins Unrecht zu setzen, indem Sie annahmen, daß
ich es war, der Ihre Briefe stehlen wollte. Denn Sie haben mir
einreden wollen, daß meine Gemeinheit and Selbstsucht und Ihre Güte,
Ihre Ergebenheit and Ihre Selbstaufopferung an allem schuld seien.
Das ist englisch!
(Dame.) Unsinn! ich weiß zu gut, wie wenig ich Engländerin bin. Die
Engländer sind ein sehr dummes Volk.
(Napoleon.) Ja, zu dumm manchmal, um zu wissen, wann sie geschlagen
sind. Aber ich gebe zu, daß Ihr Gehirn nicht englisch ist. Sie sehen:
obwohl Ihr Großvater ein Engländer war, war Ihre Großmutter
wohl--was? Französin?
(Dame.) O nein! Irländerin.
(Napoleon rasch:) Irländerin...? (Gedankenvoll:) Ja, ich vergaß--die
Irländer... Eine englische Armee, geführt von einem irischen General:
die könnte sich messen mit einer französischen Armee, die von einem
italienischen General befehligt wird. (Er hält inne und fügt halb
scherzend, halb traurig hinzu:) Wie immer es sei... Sie haben mich
besiegt--und was einen Mann zuerst besiegt, das wird ihn auch zuletzt
besiegen. (Er tritt gedankenvoll in den im Mondlicht gebadeten
Weingarten hinaus und blickt nach oben. Sie stiehlt sich an seine
Seite und wagt es, ihre Hand auf seine Schulter zu legen, überwältigt
von der Schönheit der Nacht und ermutigt durch ihre Dunkelheit.)
(Dame sanft:) Wonach blicken Sie?
(Napoleon nach aufwärts zeigend:) Nach meinem Stern.
(Dame.) Glauben Sie an ihn?
(Napoleon.) Ja. (Sie sehen einen Augenblick nach dem Stern hin; sie
lehnt sich ein wenig an seine Schulter.)
(Dame.) Wissen Sie, daß man in England sagt, eines Mannes Stern sei
unvollständig ohne das Strumpfband einer Frau?[*]
[Footnote *: Eine Anspielung auf den Stern eines Ordens und den
Hosenbandorden.]
(Napoleon entrüstet, schüttelt sie kurz ab und kommt zurück in das
Zimmer:) Pah! die Heuchler! Wenn die Franzosen so etwas sagten,
würden sie in frommem Schauder abwehrend die Hände erheben. (Er geht
nach der inneren Türe und hält sie offen.) He! Giuseppe! wo bleibt
das Licht, Mensch? (Er kommt zwischen den Tisch und das Büfett und
rückt den zweiten Stuhl an den Tisch, neben seinen eigenen:) Wir
müssen den Brief noch verbrennen. (Er hebt das Paket auf. Giuseppe
kommt zurück. Noch bleich und zitternd, trägt er in der einen Hand
einen Armleuchter mit ein paar brennenden Kerzen und eine breite
Lichtputzschere in der andern.)
(Giuseppe kläglich, während er das Licht auf den Tisch stellt:)
Exzellenz, wonach haben Sie eben da draußen ausgeschaut? (Er zeigt
über seine Schulter nach dem Weingarten, fürchtet sich aber,
umherzublicken.)
(Napoleon das Paket aufmachend:) Was geht dich das an?
(Giuseppe stammelnd:) Weil die Hexe fort ist--verschwunden... und
niemand hat sie fortgehen sehn.
(Dame hinter ihm aus dem Weingarten tretend:) Wir haben sie beobachtet,
wie sie auf ihrem Besenstiel zum Mond hinaufgeritten ist. Giuseppe,
Sie werden sie nie wiedersehen!
(Giuseppe.) Jesus Maria! (Er bekreuzigt sich und eilt hinaus.)
(Napoleon wirft die Briefe in einem Haufen auf den Tisch:) Nun, also!
(Er setzt sich auf den Stuhl, den er eben hingestellt hat.)
(Dame.) Ja; aber Sie wissen doch--den bewußten Brief haben Sie noch in
Ihrer Tasche. (Er lächelt, nimmt einen Brief aus der Tasche und wirft
ihn auf die Spitze des Haufens. Sie hebt ihn auf, betrachtet Napoleon
und sagt:) Cäsars Frau betreffend.
(Napoleon.) Cäsars Frau ist über allen Verdacht erhaben--verbrennen
Sie ihn.
(Dame nimmt den Brief mit der Lichtputzschere und hält ihn damit an
die Kerzenflamme:) Wäre Cäsars Frau wohl über allen Verdacht erhaben,
wenn sie uns beide hier sitzen sähe--? Wer weiß--?
(Napoleon ihre Worte mechanisch wiederholend, die Ellbogen auf den
Tisch und die Wangen in die Hände gestützt, den Brief betrachtend:)
Wer weiß--? (Die fremde Dame legt den angezündeten Brief auf das
Lichtputzbrett und setzt sich neben Napoleon in der gleichen Stellung,
die Ellbogen auf den Tisch, die Wangen in die Hände gestützt, und
sieht zu, wie er verbrennt. Als er verkohlt, wenden sie beide
gleichzeitig ihre Blicke davon ab und sehen einander an. Der Vorhang
gleitet langsam herab und entzieht sie den Blicken.)
Bernard Shaw.