(Gloria blickt auf und fragt entsetzt:) Und der andere Herr?...
(Der Kellner verfällt unbewußt einen Augenblick in die Tonart eines
Liedes, das er als Knabe gesungen, beruhigend:) Oh, der kommt,
gnädiges Fräulein--oh, der kommt. Er hat gerudert und ist eben in die
Apotheke gelaufen, sich etwas für seine wunden Handflächen geben zu
lassen. Aber er muß gleich hier sein, gnädiges Fräulein!
(Gloria erhebt sich in unbezwingbarer Angst und läuft zur Tür.)
(Frau Clandon sich halb erhebend:) Glo--(Gloria geht hinaus; Frau
Clandon starrt den Kellner an, dessen Haltung unbeweglich bleibt.)
(Der Kellner heiter:) Sonst noch etwas gefällig, gnädige Frau?
(Frau Clandon.) Nein, danke.
(Der Kellner.) Ich habe zu danken, gnädige Frau.
(Als er sich zurückziehen will, kommen Philip und Dolly in
fröhlichster Laune bereingestürmt; er hält ihnen die Tür auf, geht
dann hinaus und schließt sie.)
(Dolly gierig:) Oh, gib mir schnell etwas Tee! (Frau Clandon schenkt
ihr eine Tasse ein.) Wir sind in einem Boot auf dem Meer gewesen. Dr.
Valentine wird gleich da sein.
(Philip.) Er ist nicht an Seefahrten gewöhnt.--Wo ist Gloria?
(Frau Clandon ängstlich, während sie ihm Tee eingießt:) Phil, mit
Gloria ist etwas los. Ist etwas passiert? (Philip und Dolly sehen
einander mit unterdrücktem Lachen an.) Was ist es?
(Philip setzt sich an ihre linke Seite:) Romeo--
(Dolly setzt sich an ihre rechte Seite:)--und Julia!
(Philip nimmt seine Teetasse Frau Clandon ab:) Ja, liebe Mama: die
alte, alte Geschichte--Dolly, nimm nicht die ganze Milch. (Er reißt
ihr die Kanne geschickt fort.) Ja, im Frühling--
(Dolly)--kann eines Jünglings Phantasie--
(Philip)--leicht Liebesblüten treiben... Ich danke. (Zu Frau Clandon,
die ihm die Biskuits gereicht hat:) Das kommt übrigens auch im Herbst
vor. Diesmal ist der Jüngling--
(Dolly.) Doktor Valentine.
(Philip.) Und seine Phantasie hat Gloria in einem Maße gehuldigt, daß
er sie--
(Dolly)--geküßt hat--
(Philip.)--auf der Terrasse--
(Dolly ihn verbessernd:)--auf die Lippen--vor allen Leuten!
(Frau Clandon ungläubig:) Phil--Dolly--spaßt ihr? (Sie schütteln den
Kopf.) Hat sie es geduldet?
(Philip.) Wir haben erwartet, ihn vom Blitze ihrer Verachtung zu Boden
geschmettert zu sehen--
(Dolly.)--aber es geschah nichts dergleichen--
(Philip.) Es schien ihr ganz recht zu sein.
(Dolly.) Soweit wir es beurteilen konnten... (Sie fällt Philip, der
im Begriff ist, sich noch eine Tasse einzugießen, in den Arm:) Nein,
du hast die zweite Tasse abgeschworen!
(Frau Clandon sehr beunruhigt:) Kinder, ihr dürft nicht hier sein,
wenn Doktor Valentine kommt. Ich muß darüber sehr ernst mit ihm
sprechen.
(Philip.) Um ihn nach seinen Absichten zu fragen?... Was für eine
Verletzung der "Grundsätze des zwanzigsten Jahrhunderts"!
(Dolly.) Du hast ganz recht, Mama! Stelle ihn zur Rede. Schlage
soviel du nur kannst aus dem neunzehnten Jahrhundert heraus, so lange
es dauert.
(Philip.) Sch! er kommt!
(Dr. Valentine tritt ein:) Ich bedaure sehr, mich verspätet zu haben,
Frau Clandon. (Sie ergreift die Teekanne:) Nein, ich danke, ich
trinke niemals Tee. Fräulein Dolly und Phil haben Ihnen wohl schon
erzählt, was mir passiert ist.
(Philip erhebt sich; wichtig:) Ja, Doktor, wir haben es Mama erzählt.
(Dolly erhebt sich gleichfalls; bedeutungsvoll:) Wir haben es Mama
sehr genau erzählt.
(Philip.) Es war unsere Pflicht. (Sehr ernst:) Komm, Dolly! (Er
bietet Dolly seinen Arm, die sich einhängt. Sie sehen Dr. Valentine
mitleidig an und gehen Arm in Arm ernst hinaus. Dr. Valentine sieht
ihnen verwirrt nach, dann blickt er Frau Clandon fragend, wie um eine
Erklärung bittend an.)
(Frau Clandon erhebt sich und verläßt den Teetisch:) Wollen Sie
gefälligst Platz nehmen, Herr Doktor. Ich möchte etwas mit Ihnen
besprechen, wenn Sie erlauben. (Dr. Valentine setzt sich langsam auf
die Ottamane nieder. Sein Gewissen prophezeit ihm eine schlimme
Viertelstunde. Frau Clandon nimmt Philips Stuhl und setzt sich
bedächtig in gemessener Entfernung.) Ich muß zunächst ein wenig
Nachsicht für mich erbitten. Ich bin im Begriff, über einen
Gegenstand zu sprechen, von dem ich sehr wenig, vielleicht gar nichts
verstehe. Ich meine--Liebe.
(Dr. Valentine.) Liebe!
(Frau Clandon.) Ja, Liebe.--Oh, Sie brauchen nicht so beunruhigt
dreinzuschauen, Herr Doktor--ich bin nicht in Sie verliebt.
(Dr. Valentine überwältigt:) Wahrhaftig, Frau--(Sich erholend:) Es
würde mich mehr als stolz machen, wenn Sie es wären.
(Frau Clandon.) Ich danke Ihnen, Herr Doktor; aber ich bin zu alt,
jetzt nach damit anzufangen.
(Dr. Valentine.) Anzufangen?!... Haben Sie nie--?
(Frau Clandon.) Niemals. Mein Schicksal ist sehr alltäglich gewesen.
Ich habe geheiratet, bevor ich alt genug war, zu wissen, was ich
eigentlich tat. Wie Sie sich selbst überzeugt haben, war die Folge
davon eine bittere Enttäuschung für uns beide, für meinen Mann und für
mich. So kommt es, daß ich, trotzdem ich verheiratet bin, niemals
verliebt war... ich habe in meinem ganzen Leben keine einzige
Liebesangelegenheit gehabt. Und um ganz aufrichtig zu sein, Herr
Doktor, was ich von den Liebesangelegenheiten anderer gesehen habe,
hat nicht dazu beigetragen, mich diesen Mangel bedauern zu lassen.
(Dr. Valentine, der sehr verdrießlich dreinschaut, blinzelt skeptisch
nach ihr hin und sagt nichts. Sie errötet ein wenig und fügt mit
unterdrücktem Ärger hinzu:) Sie glauben mir nicht.
(Dr. Valentine bestürzt, da er seine Gedanken erraten sieht:) Aber,
warum denn nicht... warum nicht?
(Frau Clandon.) Lassen Sie sich sagen, Herr Doktor, daß ein der
Menschheit gewidmetes Leben Begeisterungen bietet und Leidenschaften
kennt, die bei weitem die selbstsüchtigen Verblendungen und
Sentimentalitäten eines Liebesromanes übersteigen. Ihre
Begeisterungen und Leidenschaften--sind das nicht, nicht wahr? (Dr.
Valentine weiß wohl, daß Frau Clandon ihn deswegen geringschätzt, und
antwortet negativ mit melancholischem Kopfschütteln.) Ich dachte mir's.
--Nun, dafür bin ich im Nachteil, wenn ich diese sogenannten
Herzensangelegenheiten besprechen muß, in denen Sie ein Fachmann zu
sein scheinen.
(Dr. Valentine unruhig:) Worauf spielen Sie an, Frau Clandon?
(Frau Clandon.) Ich glaube, Sie wissen es.
(Dr. Valentine.) Gloria?
(Frau Clandon.) Ja, Gloria.
(Dr. Valentine streckt die Waffen:) Nun ja, ich bin verliebt in Gloria.
(Er unterbricht sie, da sie im Begriff ist zu antworten:) Ich weiß
schon, was Sie sagen wollen: Ich habe kein Geld.
(Frau Clandon.) Ich frage sehr wenig nach Geld, Herr Doktor.
(Dr. Valentine.) Dann sind Sie aber ganz anders als alle andern Mütter,
die mit mir gesprochen haben.
(Frau Clandon.) Ah, nun kommen wir zur Hauptsache, Herr Doktor! Sie
sind ein alter Praktikus! (Er öffnet die Lippen, um zu widersprechen.
Sie unterbricht ihn mit einiger Entrüstung:) Oh, glauben Sie doch
nicht, daß ich nicht genug gesunden Menschenverstand besitze, um zu
wissen--so wenig ich von solchen Dingen verstehe--daß ein Mann, der
bei einer einzigen Begegnung, mit einer Frau wie meine Tochter so weit
kommen konnte, kaum ein Neuling sein kann!
(Dr. Valentine.) Ich versichere Ihnen--
(Frau Clandon unterbricht ihn:) Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, Herr
Doktor. Es war Glorias Sache, sich selbst zu schützen, und Sie haben
das Recht, sich nach Gefallen zu unterhalten.
(Dr. Valentine protestierend:) Mich unterhalten?... Oh, Frau Clandon!
(Frau Clandon unnachgiebig;) Bei Ihrer Ehre, Herr Doktor, meinen Sie
es ernst?
(Dr. Valentine verzweifelt:) Bei meiner Ehre, ich meine es ernst!
(Sie sieht ihn forschend an. Sein Sinn für Humor bricht bei ihm durch,
und er fügt verschmitzt hinzu:) Allerdings habe ich es immer ernst
gemeint; und dennoch--bin ich hier, wie Sie sehen!
(Frau Clandon.) Das ist es gerade, was ich ahnte. (Streng:) Herr
Doktor, Sie sind einer von den Männern, die mit den Gefühlen der
Frauen spielen.
(Dr. Valentine.) Warum auch nicht, da doch nur die Sache der
Menschheit es verdient, ernst genommen zu werden? Aber ich verstehe.
(Er erhebt sich und nimmt seinen Hut; mit förmlicher Höflichkeit:) Sie
wünschen, daß ich meine Besuche in Ihrem Hause einstelle.
(Frau Clandon.) Nein. Ich bin klug genug zu wissen, daß für Gloria
die beste Möglichkeit, Ihnen zu entkommen, die ist, Sie nur besser
kennen zu lernen.
(Dr. Valentine wirklich beunruhigt:) Oh, sagen Sie das nicht, Frau
Clandon! Das glauben Sie doch nicht--nicht wahr, nein?
(Frau Clandon.) Ich habe großes Vertrauen zu der gesunden Schule, die
Glorias Geist seit ihrer Kindheit durchgemacht hat.
(Dr. Valentine erstaunlich erleichtert:) Oh--oh! oh! dann ist's recht!
(Er setzt sich wieder und wirft seinen Hut übermütig beiseite, mit
der Miene eines Menschen, der nun nichts mehr zu fürchten hat.)
(Frau Clandon empört über seine Sicherheit:) Wie meinen Sie das?
(Dr. Valentine wendet sich ihr vertraulich zu:) Soll ich Sie auch
etwas lehren, Frau Clandon?
(Frau Clandon steif:) Ich bin immer gern bereit zu lernen.
(Dr. Valentine.) Haben Sie jemals das Thema Geschützkunst--Artillerie,
Kanonen, Kriegsschiffe und so weiter--studiert, Frau Clandon?
(Frau Clandon.) Hat die Geschützkunst irgendwas mit Gloria zu schaffen?
(Dr. Valentine.) Sehr viel!--Zur Erläuterung nämlich.--Während dieses
ganzen Jahrhunderts war der Fortschritt der Artillerie ein Zweikampf
zwischen dem Fabrikanten von Kanonen und dem Fabrikanten von
kugelsichern Panzerplatten. Man baut ein Schiff, das gegen die besten
Geschosse der bekannten Kanonen undurchdringlich ist--da erfindet
jemand ein besseres Geschoß und bringt das Schiff zum Sinken. Sofort
baut man ein schwereres, gegen die Geschosse der neuen Kanone
undurchdringliches Schiff--da erfindet wieder jemand ein noch besseres
Geschoß und bringt das Schiff wieder zum Sinken. Und so weiter.--Nun,
der Zweikampf der Geschlechter vollzieht sich auf dieselbe Weise.
(Frau Clandon.) Der Zweikampf der Geschlechter?...
(Dr. Valentine.) Ja. Sie haben doch vom Zweikampf der Geschlechter
gehört, nicht wahr?--Oh, daran habe ich nicht gedacht! Sie sind lange
in Madeira gewesen, der Ausdruck ist nach Ihrer Zeit aufgekommen.
Brauche ich ihn zu erklären?
(Frau Clandon verachtungsvoll:) Nein.
(Dr. Valentine.) Natürlich nicht.--Was geschieht denn nun in diesem
Geschlechterzweikampf?... Die altmodische Mutter bekam eine
altmodische Erziehung, um gegen die Ränke des Mannes gerüstet zu sein.
Gut. Sie kennen das Resultat. Der altmodische Mann hat sie
herumgekriegt. Die altmodische Frau entschloß sich nun, ihre Tochter
wirksamer zu wappnen--irgendeine Waffe zu finden, gegen die der
altmodische Mann nicht aufkommen könnte. Sie gab ihrer Tochter
deshalb eine wissenschaftliche Erziehung--Ihr System! Diese neue
Ausrüstung hat den altmodischen Mann mattgesetzt: er jammerte, das sei
nicht gerecht, unweiblich und weiß Gott was alles. Aber das half ihm
nichts, und so mußte er seinen altmodischen Angriffsplan aufgeben--Sie
wissen ja Bescheid--auf die Knie fallen und Liebe und Gehorsam
schwören--und so weiter.
(Frau Clandon.) Entschuldigen Sie: das hat das Weib geschworen.
(Dr. Valentine.) Wirklich?--Sie haben vielleicht recht--ja natürlich,
es war das Weib!--Nun gut. Was hat der Mann getan? Genau dasselbe,
was der Kanonengießer tat--er ging einen Schritt weiter als die Frau,
bildete sich wissenschaftlich und schlug sie auf dieser Linie genau
so, wie er sie auf der alten Linie geschlagen hatte. Ich war
noch nicht dreiundzwanzig Jahre alt und hatte schon gelernt, die
frauenrechtlerische Frau herumzukriegen; es ist schon lange her, daß
man das herausgefunden hat. Sie sehen, meine Methoden sind gründlich
modern.
(Frau Clandon mit ruhigem Widerwillen:) Zweifellos.
(Dr. Valentine.) Aber gerade deswegen gibt es eine Mädchensorte, gegen
die diese Methode nutzlos ist.
(Frau Clandon.) Bitte, welche Sorte ist das?
(Dr. Valentine.) Das gründlich altmodische Mädchen. Wenn Sie Gloria
in der ehemals üblichen Weise erzogen hätten, so würde ich achtzehn
Monate gebraucht haben, um so weit zu kommen, wie ich heute nachmittag
in achtzehn Minuten gekommen bin.--Ja, Frau Clandon: die
Frauenemanzipation hat Gloria in meine Hände geliefert, und Sie waren
es, die sie den Glauben an die Frauenemanzipation gelehrt hat.
(Frau Clandon erhebt sich:) Herr Doktor, Sie sind sehr gescheit.
(Dr. Valentine erhebt sich gleichfalls:) Oh, Frau Clandon!
(Frau Clandon.) Aber Sie haben mich nichts Neues gelehrt. Adieu.
(Dr. Valentine erschrocken:) Adieu?!--Oh, darf ich sie nicht sehen,
bevor ich gehe?
(Frau Clandon.) Ich fürchte, sie wird erst zurückkommen, wenn Sie
gegangen sind, Herr Doktor. Sie hat das Zimmer eigens verlassen, um
Ihnen auszuweichen.
(Dr. Valentine gedankenvoll:) Das ist ein gutes Zeichen. Adieu. (Er
verneigt sich und wendet sich offenbar sehr befriedigt zur Tür.)
(Frau Clandon beunruhigt:) Warum halten Sie das für ein gutes Zeichen?
(Dr. Valentine dreht sich in der Nähe der Tür um:) Weil ich eine
Todesangst vor ihr habe; und es scheint, daß sie eine Todesangst vor
mir hat. (Er will nun gehen, steht aber an der Türschwelle plötzlich
Gloria gegenüber, die eben eingetreten ist. Sie sieht ihm standhaft
ins Auge. Er starrt sie hilflos an, dann suchen seine Blicke Frau
Clandon, dann wieder Gloria; er ist vollkommen außer Fassung.)
(Gloria bleich und sich nur mühsam beherrschend:) Mutter, ist es wahr,
was Dolly mir gesagt hat?
(Frau Clandon.) Was hat sie dir gesagt, mein Kind?
(Gloria.) Daß du mit diesem Herrn über meine Angelegenheiten
gesprochen hast?
(Dr. Valentine murmelnd:) Mit diesem Herrn--oh!
(Frau Clandon scharf:) Herr Doktor--können Sie einen Augenblick
schweigen? (Er blickt sie kläglich an, dann geht er mit einem
verzweifelten Achselzucken an die Ottomane zurück und wirft seinen Hut
darauf.)
(Gloria betrachtet ihre Mutter vorwurfsvoll:) Mutter, was hattest du
für ein Recht dazu?
(Frau Clandon.) Ich glaube, ich habe nichts gesagt, wozu ich nicht ein
Recht gehabt hätte, Gloria.
(Dr. Valentine bestätigt das dienstfertig:) Nichts... nicht das
geringste. (Gloria sieht ihn mit sprachloser Entrüstung an.)
Verzeihen Sie. (Er setzt sich beschämt auf die Ottomane.)
(Gloria.) Ich glaube nicht, daß irgend jemand das Recht hat, über
Dinge auch nur nachzudenken, die mich allein angehen. (Sie wendet
sich ab, einen schmerzlichen Kampf mit ihrer Erregung zu verbergen.)
(Frau Clandon.) Liebe Gloria, wenn ich deinen Stolz verletzt haben
sollte--
(Gloria wendet sieb um:) Mein Stolz--mein Stolz--oh, er ist fort!
Ich weiß jetzt, daß ich keine Kraft besitze, auf die ich stolz sein
könnte. (Wendet sich wieder ab.) Aber eine Frau, die sich nicht
selbst zu beschützen weiß, die kann niemand beschützen. Niemand ist
auch nur berechtigt, es zu versuchen... nicht einmal ihre Mutter! Ich
weiß, daß ich dein Vertrauen verloren habe, genau so wie ich die
Achtung dieses Mannes verloren habe--(Sie hält inne, um einen Seufzer
zu unterdrücken.)
(Dr. Valentine stöhnend:) Dieses Mannes--! (Er murmelt wieder:) Oh!...
(Frau Clandon mit gedämpfter Stimme:) Bitte, schweigen Sie, Herr
Doktor.
(Gloria fährt fort:)--aber ich bin wenigstens berechtigt, mit meiner
Schande allein zu bleiben. Ich bin eins von jenen schwachen
Geschöpfen, die geboren sind, um von dem erstbesten Mann, der ein Auge
auf sie wirft, gemeistert zu werden, und ich muß mein Schicksal
erfüllen. Erspare mir wenigstens die Demütigung deiner
Rettungsversuche. (Sie setzt sich, das Taschentuch an den Augen, an
das entferntere Ende des Tisches.)
(Dr. Valentine aufspringend:) Hören Sie mal--
(Frau Clandon.) Herr Dokt--
(Dr. Valentine unbekümmert:) Nein! Ich will sprechen! Ich habe
nahezu dreißig Sekunden geschwiegen. (Er geht zu Gloria hin:)
Fräulein Clandon--
(Gloria bitter:) Oh--nicht Fräulein Clandon--Sie wissen ja, daß man es
sich ganz gut gestatten darf, mich Gloria zu nennen.
(Dr. Valentine.) Nein, ich will das nicht. Sie werden mir es nachher
vorwerfen und mich der Mißachtung beschuldigen. Es ist eine
herzzerreißende Lüge, daß ich Sie nicht achte. Es ist wahr, daß ich
Ihren früheren Stolz nicht geachtet habe. Warum sollte ich es auch?
Er war nichts als Feigheit. Ich habe Ihren Verstand nicht
geachtet--davon besitze ich selbst etwas mehr; er ist eine männliche
Spezialität. Aber als Sie mich in meinen Tiefen aufgewühlt hatten!
--als mein großer Augenblick gekommen war!--als Sie mich tapfer
machten!--ah, da, da, da!
(Gloria.) Da achteten Sie mich, meinen Sie.
(Dr. Valentine.) Nein, das nicht:--da betete ich Sie an! (Sie erhebt
sich rasch und wendet ihm den Rücken zu.) Und diesen Augenblick werden
Sie mir niemals nehmen können. So--nun ist mir einerlei, was
geschieht! (Er geht auf und ab und stößt einen frohen Ausruf aus, mit
dem er sich an niemand besonders wendet:) Ich weiß sehr gut, daß ich
Unsinn rede--aber ich kann nicht anders. (Zu Frau Clandon:) Ich liebe
Gloria--und damit basta!
(Frau Clandon mit Nachdruck:) Herr Doktor, Sie sind ein sehr
gefährlicher Mensch. Gloria, komm her.(Gloria wundert sich ein wenig
über diesen Befehl, gehorcht aber und bleibt mit gesenktem Kopf rechts
von ihrer Mutter stehen; Dr. Valentine steht auf der andern Seite.
Frau Clandon spricht nun mit nachdrücklichem Hohn:) Frage diesen Mann,
den du begeistert und tapfer gemacht hast, wie viele Frauen das vor
dir getan haben. (Gloria sieht plötzlich mit einem Aufflammen
eifersüchtigen Ärgers und Staunens auf.) Wie oft er die Falle gestellt
hat, in die du ihm gegangen bist; wie oft er sie mit ganz denselben
Redensarten geködert hat; wieviel Übung er als Duellant im Zweikampf
der Geschlechter hat, der seinen eigentlichen Lebensberuf ausmacht.
(Dr. Valentine.) Das ist nicht recht, Frau Clandon! Sie. nützen mein
Vertrauen aus!
(Frau Clandon.) Frage ihn, Gloria!
(Gloria gebt in einem Wutausbruch mit geballten Fäusten auf ihn los:)
Ist das wahr?!
(Dr. Valentine.) Bitte, seien Sie nicht böse--
(Gloria unterbricht ihn; unerbittlich:) Ist das wahr?! Haben Sie das
alles jemals schon gesagt?... haben Sie das alles jemals schon
empfunden?... für eine andere Frau?
(Dr. Valentine geradeheraus:) Ja.
(Gloria erbebt ihre geballten Hände.)
(Flau Clandon springt entsetzt an ihre Seite und hält ihre erhobenen
Arme auf:) Gloria, liebes Kind--du vergißt dich!
(Gloria gibt mit einem tiefen Seufzer ihre drohende Stellung langsam
auf:)
(Dr. Valentine.) Bedenken Sie: eines Mannes Fähigkeit zur Liebe und
zur Bewunderung ist wie jede andere seiner Fähigkeiten: er muß sie oft
weggeworfen haben, bevor er wissen kann, was ihrer wirklich wert ist.
(Frau Clandon.) Das ist auch eine seiner eingelernten Redensarten.
Gloria, nimm dich in acht!
(Dr. Valentine sich verwahrend:) Oh!
(Gloria zu Frau Clandon, mit verachtungsvoller Selbstbeherrschung:)
Glaubst du, daß ich jetzt noch gewarnt zu werden brauche? (Zu Dr.
Valentine:) Sie haben versucht, mich dahin zu bringen, Sie zu lieben!
(Dr. Valentine.) Jawohl.
(Gloria.) Nun, Sie haben damit nur erreicht, daß ich Sie
hasse--leidenschaftlich hasse!
(Dr. Valentine philosophisch:) Es ist überraschend, wie klein doch der
Unterschied zwischen Haß und Liebe ist. (Gloria wendet sich entrüstet
von ihm ab. Er fährt zu Frau Clandon gewendet fort:) Ich kenne Frauen,
die ihre Männer lieben und sich dabei genau so gegen sie benehmen.
(Frau Clandon.) Entschuldigen Sie, Herr Doktor, aber wäre es nicht
besser, Sie gingen?
(Gloria.) Meinetwegen brauchst du ihn nicht fortzuschicken! Er ist
mir jetzt nichts mehr und er wird Phil und Dolly amüsieren. (Sie
setzt sich mit geringschätziger Gleichgültigkeit an den Tisch, in die
Nähe des Fensters.)
(Dr. Valentine lustig:) So ist's recht! Das ist die vernünftige Art,
es aufzufassen. Gehen Sie, Frau Clandon Sie können einem bloßen
Schmetterling, wie ich es bin, nicht ernstlich böse sein.
(Frau Clandon.) Ich habe gar kein Vertrauen zu Ihnen, Herr Doktor;
aber ich will nicht annehmen, daß Ihre beklagenswert leichtsinnige
Veranlagung einzig schamlos und nichtswürdig ist--
(Gloria für sich, aber laut:) Ja, schamlos und nichtswürdig!
(Frau Clandon.)--Deshalb ist es vielleicht besser, wenn wir Phil und
Dolly rufen lassen und Ihnen gestatten, Ihren Besuch auf die übliche
Weise zu beenden.
(Dr. Valentine, als wenn sie ihm das größte Kompliment gemacht hätte:)
Sie sind zu liebenswürdig, Frau Clandon--ich danke Ihnen!
(Der Kellner tritt ein:) Herr McComas, gnädige Frau.
(Frau Clandon.) O gewiß! ich lasse bitten.
(Der Kellner.) Er läßt fragen, ob er Sie nicht im Lesezimmer sprechen
dürfte, gnädige Frau.
(Frau Clandon.) Warum nicht hier?
(Der Kellner.) Nun, wenn ich es sagen darf, gnädige Frau: ich glaube,
Herr McComas fühlt, er hätte leichteres Spiel, wenn er mit Ihnen in
Abwesenheit der jüngeren Mitglieder Ihrer Familie sprechen könnte,
gnädige Frau.
(Frau Clandon.) Sagen Sie ihm, daß die Kinder nicht hier sind.
(Der Kellner.) Sie behalten die Tür im Auge, gnädige Frau, und passen
scharf auf aus irgendeinem Grunde.
(Frau Clandon geht:) Nun gut, so will ich zu ihm gehen.
(Der Kellner hält ihr die Tür auf:) Ich danke, gnädige Frau. (Sie
geht hinaus. Er kommt ins Zimmer zurück und begegnet dem Auge Dr.
Valentines, der wünscht, daß er sich entferne.) Sofort, Herr
Doktor--nur das Teegeschirr. (Er nimmt das Teebrett:) Entschuldigen
Sie, Herr Doktor--ich danke sehr. (Er gebt hinaus.)
(Dr. Valentine zu Gloria:) Hören Sie! Früher oder später werden Sie
mir verzeihen... verzeihen Sie mir gleich.
(Gloria erbebt sich, um ihre Erklärung an ihn intensiver zu machen:)
Niemals! so lange Gras wächst und Wasser fließt--nie--nie--nie!
(Dr. Valentine unerschrocken:) Auch gut. Mich kann nichts unglücklich
machen--ich werde nie wieder unglücklich sein, nie, nie, nie, so lange
Gras wächst und Wasser fließt!! Der Gedanke an Sie wird mich immer
mit jauchzender Freude erfüllen. (Ein höhnisches Wort ist auf ihren
Lippen. Er unterbricht sie rasch:) Nein, das habe ich noch zu keiner
gesagt... Das ist das erstemal!
(Gloria.) Wenn Sie es der nächsten Frau sagen, wird es nicht zum
ersten Male sein!
(Dr. Valentine.) O nicht, Gloria, nicht! (Er kniet vor ihr nieder.)
(Gloria.) Stehen Sie auf--stehen Sie auf! Wie können Sie es wagen?
(Philip und Dolly stürzen, wie gewôhnlich um die Wette laufend, ins
Zimmer. Sie prallen zurück, als sie sehen, was vorgeht. Dr.
Valentine springt auf.)
(Philip diskret:) O entschuldigen Sie.--Komm, Dolly. (Er wendet sich
um und will geben.)
(Gloria geärgert:) Die Mutter wird gleich wieder da sein, Phil.
(Streng:) Bitte, wartet hier auf sie. (Sie geht an das Fenster und
sieht, mit dem Rücken gegen die andern, hinaus.)
(Philip bedeutungsvoll:) O wirklich--hm hm...
(Dolly.) Aha!
(Philip.) Sie scheinen sehr gut aufgelegt zu sein, Doktor?
(Dr. Valentine.) Das bin ich auch. (Er tritt zwischen sie:) Nun so
hören Sie: Sie beide wissen doch, was hier vorgefallen ist, nicht
wahr? (Gloria wendet sich rasch um, als ahnte sie eine neue
Beleidigung.)
(Dolly.) Alles.
(Dr. Valentine.) Nun, es ist alles vorbei. Ich wurde
abgewiesen--verachtet. Ich werde hier nur noch geduldet. Sie
verstehen doch?... es ist alles vorbei. Ihre Schwester will von
meinen Huldigungen absolut nichts wissen, sie will nicht einmal
geruhen, auch nur das kleinste Interesse für mich zu haben. (Gloria
ist zufrieden und wendet sich verachtungsvoll wieder zum Fenster.) Ist
das klar?
(Dolly.) Es geschieht Ihnen recht--Sie haben es gar zu eilig gehabt.
(Philip ihm auf die Schultern klopfend:) Machen Sie sich nichts
daraus--nicht einmal Ihre Seele wäre Ihr Eigentum geblieben, wenn
Gloria Sie geheiratet hätte. Sie können jetzt ein neues Kapitel Ihres
Lebens beginnen.
(Dolly.) Kapitel siebzehn ungefähr, nicht wahr?
(Dr. Valentine durch diesen Scherz aus dem Text gebracht:) Nein--sagen
Sie nicht solche Sachen! Gerade gedankenlose Bemerkungen dieser Art
richten das größte Unglück an.
(Dolly.) O wirklich? Hm hm!
(Philip.) Aha! (Er geht an den Kamin und pflanzt sich dort in seiner
gesuchtesten Stellung als Haupt der Familie auf.)
(McComas, der sehr ernst aussieht, tritt rasch mit Frau Clandon ein,
deren erste Sorge Gloria ist. Sie blickt suchend umher und ist im
Begriff, zu ihr ans Fenster zu eilen, da kommt ihr Gloria mit
deutlichen Zeichen des Vertrauens und der Liebe entgegen. Endlich
setzt sich Frau Clandon, Gloria stellt sich hinter ihren Stuhl.
McComas wird auf seinem Wege nach der Ottomane von Dolly angerufen.)
(Dolly.) Nun, was bringen Sie Gutes... Finch?
(McComas düster:) Sehr ernste Nachrichten von Ihrem
Vater. Fräulein Clandon,--sehr ernste Nachrichten. (Er gebt zur
Ottomane und setzt sich.)
(Dolly, auf die das tiefen Eindruck macht, folgt ihm und setzt sich
rechts neben ihn.)
(Dr. Valentine.) Vielleicht ist es besser, wenn ich gehe.
(Mc Contas.) Um keinen Preis, Herr Doktor! Sie geht die Sache sehr an.
(Dr. Valentine nimmt einen Stuhl vom Tisch fort und setzt sich
rittlings, über den Rücken gelehnt, in die Nähe der Ottomane.) Frau
Clandon, Ihr Mann beansprucht die Aufsicht über seine zwei jüngeren
Kinder, die nicht majorenn sind, für sich.
(Frau Clandon erschrickt und blickt sich instinktiv sofort nach Dolly
um, um zu sehen, ob sie in Sicherheit ist.)
(Dolly ergriffen:) Oh, wie nett von ihm! Er hat uns lieb, Mama!
(McComas.) Es tut mir leid, Sie darüber eines Besseren belehren zu
müssen, Fräulein Dorothea.
(Dolly in Ekstase; girrend:) Dorothee-ee-ee-a! (Lehnt sich ganz
überwältigt an seine Brust:) O Finch!
(McComas nervös wegrückend:) Nein! nein--nein! nein!
(Frau Clandon zurechtweisend:) Liebste Dolly! (Zu Mc Comas:) Laut
unserer Trennungsurkunde fällt mir die Aufsicht über die Kinder zu.
(McComas.) Sie enthält auch die Verpflichtung, daß Sie sich ihm weder
nähern noch ihn in irgendeiner Weise belästigen dürfen.
(Frau Clandon.) Nun, habe ich das etwa getan?
(McComas.) Ob das Benehmen Ihrer jüngeren Kinder dem Gesetze nach eine
Belästigung ist, das ist eine Frage, die vielleicht ein Advokat
entscheiden müßte. Jedenfalls beklagt sich Herr McNaughtan, nicht nur
belästigt worden zu sein, sondern er behauptet auch, daß er planmäßig
hergelockt wurde und daß Herr Dr. Valentine dabei als Ihr Vertreter
die Hand im Spiel gehabt hat.
(Dr. Valentine.) Was?... wie??...
(McComas.) Er behauptet, daß Sie ihn betäubt haben, Herr Doktor.
(Dr. Valentine.) Das habe ich allerdings getan. (Sie sind erstaunt.)
(McComas.) Aber zu welchem Zweck?
(Dolly.) Um fünf Schillinge extra zu verdienen!
(McComas zu Dolly kurz angebunden:) Ich muß Sie wirklich bitten,
Fräulein Clandon, unsere sehr ernste Unterredung nicht durch
ungehörige Unterbrechungen zu stören. (Heftig:) Ich bestehe darauf,
daß ernste Angelegenheiten ernst und würdig besprochen werden!
(Diesem Ausbruch folgt eine um Entschuldigung bittende Stille, die
selbst Herrn McComas aus dem Text bringt. Er hustet und beginnt von
neuem, sich an Gloria wendend:) Fräulein Clandon: ich habe ferner die
Pflicht, Ihnen zu sagen, daß Ihr Vater auch die Überzeugung gewonnen
hat, daß Dr. Valentine Sie zu heiraten wünscht.
(Dr. Valentine geschickt unterbrechend:) Ja, das wünsche ich auch.
(McComas beleidigt:) Dann dürfen Sie nicht erstaunt sein, Herr Doktor,
wenn der Vater der jungen Dame Sie für einen Mitgiftjäger hält.
(Dr. Valentine.) Das bin ich auch! Glauben Sie, daß eine Frau von
meinen Einkünften leben kann? Einen Schilling pro Woche?
(McComas empört:) Ich habe nichts mehr hinzuzufügen, Herr Doktor. Ich
werde zu Herrn McNaughtan zurückkehren und ihm sagen, daß diese
Familie kein Ort für einen Vater ist. (Er gebt zur Tür.)
(Frau Clandon mit ruhiger Würde:) Finch! (Er bleibt stehen:) Wenn der
Herr Doktor nicht ernst sein kann--Sie können es. Setzen Sie sich.
(Nach einem kurzen Kampf zwischen seiner Würde und seiner Freundschaft
unterliegt McComas und setzt sich, diesmal zwischen Dolly und Frau
Clandon.) Sie wissen so gut wie ich, daß all dies eine Komödie ist und
daß Fergus diese Dinge ebensowenig glaubt wie Sie. Geben Sie mir
jetzt einen wirklichen Rat--Ihren aufrichtigen freundschaftlichen Rat.
Sie wissen, ich habe Ihrem Urteil immer vertraut. Ich verspreche
Ihnen, daß die Kinder sich ruhig verhalten werden.
(McComas fügt sich:) Nun, nun.--Was ich sagen möchte, ist dies. Nach
der alten Übereinkunft zwischen Ihnen und ihm, Frau Clandon, war Ihr
Mann furchtbar benachteiligt.
(Frau Clandon.) Wieso, wenn ich bitten darf?
(McComas.) Nun Sie, eine emanzipierte Frau, waren gewöhnt, die
öffentliche Meinung zu verachten und auf das, was die Welt über Sie
sagen könnte, keinerlei Rücksicht zu nehmen.
(Frau Clandon stolz darauf:) Ja, das ist richtig! (Gloria beugt sich
vor und küßt ihre Mutter auf die Haare--eine Zustimmung, die sie
äußerst verwirrt.)
(McComas.) Andererseits hatte Ihr Mann, Frau Clandon, einen großen
Abscheu vor allem, was ihn in die Zeitungen bringen konnte. Er mußte
Rücksicht auf sein Geschäft sowohl wie auf die Vorurteile seiner
altmodischen Familie nehmen.
(Frau Clandon.) Seine eigenen Vorurteile nicht zu erwähnen.
(McComas.) Er hat sich ja ohne Zweifel schlecht benommen, Frau Clandon.
(Frau Clandon verachtungwoll:) Zweifellos.
(McComas.) War es aber ausschließlich seine Schuld?
(Frau Clandon.) War es die meine?
(McComas rasch:) Nein, selbstverständlich nicht.
(Gloria ihn aufmerksam betrachtend:) Das glauben Sie nicht wirklich,
Herr McComas.
(McComas.) Mein liebes Fräulein, Sie setzen mir sehr scharf zu, aber
ich will Ihnen nur so viel sagen: Wenn ein Mann eine unpassende Ehe
eingeht--dafür kann niemand, wie Sie wissen, das ist oft nur zufällige
Unvereinbarkeit der Geschmacksrichtungen--wenn er durch dieses Unglück
der häuslichen Liebe beraubt wird, die--wie ich glaube--der Grund ist,
warum ein Mann heiratet,--wenn, kurz gesagt, seine Frau schlimmer ist
als gar keine Frau--woran sie natürlich unschuldig sein kann--ist es
da gar so erstaunlich, daß er die Dinge zuerst verschlimmert, indem er
ihr Vorwürfe macht und dann in seiner Verzweiflung sogar gelegentlich
zu viel trinkt oder anderweitig Sympathie sucht?
(Frau Clandon.) Ich habe ihm keine Vorwürfe gemacht, ich habe einfach
mich und die Kinder von ihm befreit.
(McComas.) Ja. Aber Sie haben harte Bedingungen gestellt, Frau
Clandon. Sie hatten ihn in Ihrer Gewalt--Sie haben ihn in die Knie
gedrückt, als Sie damit drohten, die Sache zu veröffentlichen, indem
Sie die Gerichte um eine gesetzliche Scheidung anriefen. Nehmen Sie
an, er hätte diese Macht über Sie gehabt und dazu benützt, Ihre Kinder
von Ihnen fortzunehmen und sie so zu erziehen, daß Sie bis auf Ihren
Namen vergessen wären... was würden Sie dabei fühlen?... Was würden
Sie tun?... Wollen Sie nicht auch seinen Gefühlen etwas Nachsicht
zeigen--? aus reiner Menschlichkeit?
(Frau Clandon.) Ich habe nie Gefühle bei ihm entdeckt. Ich habe sein
heftiges Temperament entdeckt und seine--(sie schaudert:) alles übrige
seiner gewöhnlichen Menschlichkeit.
(McComas gedankenvoll:) Frauen können sehr hart sein, Frau Clandon.
(Dr. Valentine.) Das ist wahr!
(Gloria zornig:) Schweigen Sie! (Er fügt sich.)
(McComas nimmt seine ganze Kraft zusammen:) Lassen Sie mich eine
letzte Bitte aussprechen, Frau Clandon. Glauben Sie mir, es gibt
Männer, die sehr viel Gefühl, ja Güte haben, die aber unfähig sind,
sie auszudrücken. Was Sie an McNaughtan vermissen, ist jener bloß
äußere Anstrich von Zivilisation, die Kunst, wertlose Aufmerksamkeiten
zu erweisen und auf reizende liebenswürdige Art unaufrichtige
Komplimente zu machen. Wenn Sie in London lebten, wo die ganze
Gesellschaftsordnung auf falscher Kameradschaftlichkeit aufgebaut ist
und Sie mit einem Menschen zwanzig Jahre zusammen sein können, ohne
herausgefunden zu haben, daß er Sie haßt wie Gift, dann würden Ihnen
die Augen bald aufgehen. Dort tut man unfreundliche Dinge auf
freundliche Art; man sagt Bitterkeiten mit süßer Stimme; man gibt
seinen Freunden immer Chloroform, wenn man sie in Stücke reißt. Aber
denken Sie an die Kehrseite der Medaille! Denken Sie an die Leute,
die auf unfreundliche Weise Gutes tun--an Leute, deren Berührung
schmerzt, deren Stimme schneidet, deren Temperament zuweilen mit ihnen
durchgeht--die es fertig bringen, Menschen, die sie lieben, zu
verletzen und zu quälen, selbst dann noch, wenn sie sie versöhnen
wollen--und die trotzdem ebensoviel Liebe brauchen wie wir andern...
McNaughtan hat ein entsetzliches Temperament, ich gebe es zu; er hat
keine Manieren, keinen Takt, keine Anmut--er wird nie imstande sein,
irgend jemandes Neigung zu gewinnen, wenn dieser nicht seine Sehnsucht
danach auf Treu und Glauben hinnimmt. Soll er gar keine Liebe haben,
nicht einmal Mitleid?... auch nicht von seinem eigenen Fleisch und
Blut?
(Dolly ganz gerührt:) Oh, wie wundervoll, Finch!... wie lieb von Ihnen!
(Philip mit Überzeugung:) Finch, das nenne ich
Beredsamkeit--wahrhaftig Beredsamkeit!
(Dolly.) O Mama, geben wir ihm noch eine Chance! Behalten wir ihn zum
Essen!
(Frau Clandon unbewegt:) Nein, Dolly: ich habe kaum etwas vom Lunch
gehabt.--Mein lieber Finch, es ist ganz zwecklos, mit mir über Fergus
zu sprechen. Sie sind nicht mit ihm verheiratet gewesen--aber ich.
(McComas zu Gloria:) Fräulein Clandon, ich habe bis jetzt davon
abgesehen, mich an Sie zu wenden, weil Sie sogar noch unbarmherziger
als Ihre Mutter gewesen sind, wenn das wahr ist, was mir McNaughtan
gesagt hat.
(Gloria trotzig:) Sie wenden sich von der Stärke der Mutter an die
Schwäche der Tochter!
(McComas.) Nicht an Ihre Schwäche, Fräulein Clandon--ich wende mich
vom Verstande der Mutter an das Herz der Tochter.
(Gloria.) Ich habe gelernt, meinem Herzen zu mißtrauen. (Mit einem
zornigen Blick auf Dr. Valentine:) Wenn ich könnte, ich würde mir das
Herz aus dem Leibe reißen und es fortwerfen. Meine Antwort ist die
Antwort meiner Mutter! (Sie tritt zu Frau Clandon und umarmt sie.
Aber Frau Clandon, unfäbig, diese Art zur Schau gestellter Neigung zu
ertragen, befreit sich, so rasch sie, ohne Glorias Gefühle zu
verletzen, nur kann.)
(McComas besiegt:) Nun, das tut mir leid--sehr leid. Ich habe mein
Möglichstes getan. (Er erbebt sich und ist im Begriff, in tiefster
Unzufriedenheit fortzugehen.)
(Frau Clandon.) Aber was haben Sie denn erwartet, Finch? Was
verlangen Sie?... Was sollen wir tun?
(McComas.) Vor allem sollten Sie beide, Sie und McNaughtan, das
Gutachten eines Advokaten einholen, um zu erfahren, inwieweit
McNaughtan durch die Trennungsurkunde gebunden ist. Warum nun nicht
dieses Gutachten gelegentlich einer freundschaftlichen (ihr Gesicht
wird hart)--oder sagen wir neutralen--Zusammenkunft mit McNaughtan
einholen, und zwar am besten sofort? Der Einfachheit und
Bequemlichkeit halber schlage ich dieses Hotel vor... Gleich heute
abend--was meinen Sie dazu?
(Frau Clandon.) Aber woher sollen wir dieses Gutachten so schnell
bekommen?
(McComas.) Es ist beinahe aus den Wolken auf uns herabgefallen. Auf
meinem Rückwege von McNaughtan hierher begegnete ich einem
hervorragenden Rechtsanwalt, einem Manne, dem ich eine Sache vor
Gericht anvertraut habe, die ihn zuerst berühmt gemacht hat. Er
bleibt von Samstag bis Montag hier, um Seeluft zu atmen und einen
Verwandten, der hier wohnt, zu besuchen. Er war so freundlich, mir
sein Erscheinen für den Fall zuzusagen, daß es mir gelänge, eine
Zusammenkunft der Parteien zustande zu bringen. Er wird uns mit
seinem gewiegten Rat zur Seite stehen.--Lassen Sie uns doch diese
Gelegenheit zu einer ruhigen, freundlichen Familienzusammenkunft
benützen; gestatten Sie mir, meinen Freund herzubringen, und ich will
versuchen, auch McNaughtan zum Kommen zu bewegen. Bitte, stimmen Sie
zu! Einverstanden?
(Frau Clandon nach einem Augenblick der Überlegung, bedeutungsvoll:)
Finch! ich brauche kein Rechtsgutachten, weil ich die Absicht habe,
mich von meinem eigenen Gutachten leiten zu lassen. Ich wünsche nicht,
Fergus wieder zu begegnen, weil ich ihn nicht mag und weil ich nicht
glaube, daß eine Zusammenkunft irgendwie nützen könnte. (Sie erhebt
sich:) Aber da Sie die Kinder überzeugt haben, daß er nicht ganz
hoffnungslos ist, tun Sie, was Ihnen beliebt.
(McComas nimmt ihre Hand und schüttelt sie:) Ich danke Ihnen, Frau
Clandon.--Paßt Ihnen neun Uhr?
(Frau Clandon.) Vollkommen.--Phil, klingle, bitte.
(Philip klingelt.) Wenn ich aber angeklagt werden soll, mich mit Herrn
Dr. Valentine verschworen zu haben, dann würde es, glaube ich, besser
sein, er wäre zugegen.
(Dr. Valentine sich erhebend:) Ich bin ganz Ihrer Ansicht. Ich halte
meine Anwesenheit für äußerst wichtig.
(McComas.) Ich glaube, dagegen ist nichts einzuwenden. Ich hege die
größten Hoffnungen auf eine glückliche Lösung. Inzwischen leben Sie
wohl. (Er gebt hinaus und begegnet dem Kellner, der die Tür für ihn
offen hält.)
(Frau Clandon.) Wir erwarten um neun Uhr Besuch, William. Könnten wir
nicht schon um sieben Uhr statt um halb acht dinieren?
(Der Kellner an der Tür:) Um sieben, gnädige Frau? Gewiß, gnädige
Frau. Es wird sogar eine Erleichterung für uns sein heut abend, wo so
viel zu tun ist. Wir haben Konzert, und die Illumination ist zu
arrangieren und sonst noch allerlei, gnädige Frau.
(Dolly.) Illumination!
(Philip.) Konzert!--William: was ist denn los?
(Der Kellner.) Heute ist Maskenball, gnädiges Fräulein.
(Dolly und Philip stürzen gleichzeitig auf ihn zu:) Maskenball?!
(Der Kellner.) Jawohl, junger Herr. Der Regatta-Klub gibt das Fest
zum Besten des Rettungsbootes. (Zu Frau Clandon:) Wir haben oft
solche Abende, gnädige Frau; Lampions im Garten, sehr hübsch, sehr
lustig und harmlos--wirklich! (Zu Philip:) Eintrittskarten zu fünf
Schilling bekommt man unten im Bureau, junger Herr. Damen in
Herrenbegleitung zahlen die Hälfte.
(Philip erfaßt seinen Arm, um ihn fortzuziehen:) Fort ins Bureau,
William!
(Dolly ergreift atemlos seinen andern Arm:) Schnell, bevor alle Karten
weg sind! (Sie zerren ihn mit sich weg aus dem Zimmer.)
(Frau Clandon.) Um des Himmels willen, was haben sie vor? (Abgehnd:)
Ich muß wirklich nachsehen und sie zurückrufen. (Sie folgt ihnen und
spricht im Abgeben weiter.)
(Gloria starrt Dr. Valentine kühl an und sieht dann bedächtig auf ihre
Taschenuhr.)
(Dr. Valentine.) Ich begreife, ich bin schon zu lange dageblieben.
Ich gehe.
(Gloria mit berablassender Förmlichkeit:) Ich muß mich bei Ihnen
entschuldigen. Ich bin mir bewußt, etwas scharf... vielleicht grob
gegen Sie gewesen zu sein.
(Dr. Valentine.) Durchaus nicht.
(Gloria.) Meine einzige Entschuldigung ist, daß es sehr schwer fällt,
jemandem Respekt und Achtung zu bezeugen, dessen würdeloser Charakter
weder Respekt noch Achtung fordert.
(Dr. Valentine prosaisch:) Wie kann ein Mann würdevoll auftreten, wenn
er verliebt ist?
(Gloria durch Valentines Redensart von ihrem bochtrabenden Stil
abgebracht:) Ich verbiete Ihnen, mir solche Dinge zu sagen. Es sind
Beleidigungen.
(Dr. Valentine.) Nein--es sind Torheiten. Aber ich kann nichts dafür,
ich muß sie begehen.
(Gloria.) Wenn Sie wirklich verliebt wären, würden Sie nicht töricht
sein. Liebe verleiht Würde, Ernst, ja sogar Schönheit.
(Dr. Valentine.) Glauben Sie wirklich, daß ich davon schön werden
würde? (Sie wendet ihm mit kältester Verachtung den Rücken.) Ah, Sie
sehen, daß Sie es nicht ernstlich meinen! Die Liebe kann dem Manne
keine neuen Gaben schenken; sie kann nur die Gaben, mit denen er
geboren wurde, entwickeln und erhöhen.
(Gloria geht wieder zu ihm hin:) Mit welchen Gaben sind Sie geboren,
wenn ich bitten darf?
(Dr. Valentine.) Mit Leichtigkeit des Herzens.
(Gloria.) Und Leichtigkeit des Verstandes--und Leichtigkeit des
Glaubens und Leichtigkeit alles dessen, was einen ganzen Mann ausmacht.
(Dr. Valentine.) Ja, die ganze Welt gleicht jetzt einer Feder, die im
Lichte tanzt--und Gloria ist die Sonne. (Sie erbebt ärgerlich den
Kopf.) Entschuldigen Sie--ich gehe. Um neun bin ich wieder da. Adieu.
(Er läuft lustig hinaus und läßt sie in der Mitte des Zimmers zurück.
Sie starrt ihm nach.)
(Vorhang)
VIERTER AKT
(Das gleiche Zimmer. Neun Uhr. Niemand ist da. Die Lampen sind
angezündet, aber die Vorhänge sind nicht zugezogen. Das Fenster steht
weit offen, und die Girlanden der Lampions leuchten an den Zweigen der
Bäume, darüber ein sternbesäter Himmel. Das Orchester im Garten
spielt Tanzmusik, die die Meeresbrandung übertönt.)
(Der Kellner tritt ein und führt McNaughtan und McComas in das Zimmer.
McNaughtan sieht ängstlich und gedrückt aus. Er setzt sich müde und
mutlos auf die Ottomane.)
(Der Kellner.) Die Damen sind in den Garten gegangen und sehen sich
die Masken an. Wenn Sie einstweilen gütigst Platz nehmen wollten--ich
werde sie rufen. (Er ist im Begriff, durch die Fenstertür in den
Garten zu gehen, als ihn McComas aufhält.)
(McComas.) Halt, einen Augenblick.--Wenn noch ein Herr kommt, führen
Sie ihn unverzüglich herein. Wir warten auf ihn.
(Der Kellner.) Zu Befehl. Darf ich um seinen Namen bitten?
(McComas.) Er heißt Boon. Frau Clandon kennt ihn nicht, er wird Ihnen
also vielleicht seine Karte geben. Wenn er es tut, so vergessen Sie
nicht, daß sein Name B. O. H. U. N.[*] geschrieben wird.
[Footnote *: Der Name Bohun wird Boon (spr. Bun) ausgesprochen. Es
ist ein hocharistokratischer Name, der auf die Abstammung von den
normannischen Eroberern hinweist, die im Jahre 1066 nach England
gekommen sind. Der Name Boon ist alltäglicher. McComas sagt dem
Kellner, daß er einen Herrn Bohun erwartet. Da fällt ihm ein, daß der
Herr dem Kellner wahrscheinlich seine Karte für Frau Clandon geben
wird, und da er annimmt, daß William nicht wissen dürfte, daß der Name
Bohun auf der Karte "Boon" bedeutet, so macht er ihn aufmerksam, wie
der Name buchstabiert wird. (Anm. des Übers.)]
(Der Kellner lächelnd:) Da können Sie sich vollkommen auf mich
verlassen, gnädiger Herr. Ich heiße selbst Boon, obgleich ich hier
fast nur unter dem Namen Balmy Walters bekannt bin. Eigentlich sollte
ich auch ein H. U. einfügen; aber es ist besser, wenn ich mir diese
Freiheit nicht herausnehme. Meine Name würde dann auf Normannenblut
hindeuten, gnädiger Herr--und Normannenblut ist keine Empfehlung für
einen Kellner.
(McComas.) Gut, gut. "Treue Herzen sind mehr wert als Adelskronen,
und schlichte Ehrlichkeit mehr als Normannenblut."[*]
(Der Kellner.) Das hängt zum großen Teil von der Stellung ab, die man
im Leben einnimmt. Wenn Sie Kellner wären, würden Sie bald finden,
daß Ehrlichkeit und Treue Ihnen ebensowenig helfen können wie
Normannenblut. Ich finde es am zweckmäßigsten, wenn ich meinen Namen
B. OO. N. schreibe und meinen Verstand möglichst zusammennehme.--Aber
ich halte Sie auf; verzeihen Sie mir--Ihre Leutseligkeit ist selbst
schuld daran. Ich werde den Damen sagen, daß Sie hier sind, gnädiger
Herr. (Er geht durch die Fenstertür in des Garten hinaus.)
(McComas.) McNaughtan, ich kann mich auf Sie verlassen, nicht wahr?
(McNaughtan.) Ja, ja; ich werde ruhig bleiben; ich werde geduldig sein;
ich werde mein Möglichstes tun.
(McComas.) Bedenken Sie, ich habe Sie nicht preisgegeben. Ich habe
Ihrer Familie gesagt, daß sie ganz allein Schuld an allem trüge.
(McNaughtan.) Mir haben Sie gesagt, daß ich einzig und allein der
Schuldige wäre.
(McComas.) Ihnen habe ich die Wahrheit gesagt.
(McNaughtan klagend:) Wenn die Kinder nur gerecht gegen mich sein
werden!
(McComas.) Mein lieber McNaughtan, sie werden nicht gerecht gegen Sie
sein--in ihrem Alter ist das von ihnen gar nicht zu verlangen. Wenn
Sie fortfahren, solche unmögliche Bedingungen zu stellen, dann können
wir nur ebensogut gleich wieder nach Hause gehen.
(McNaughtan.) Aber ich habe doch sicher das Recht--
[Footnote *: Ein Zitat aus Tennysons "Lady Clara Vere de Vere."]
(McComas ungeduldig:) Sie werden Ihr Recht nicht durchsetzen.--Jetzt
frage ich Sie aber ein für allemal, McNaughtan: sollte Ihr Versprechen,
sich gut zu benehmen, nur bedeuten, daß Sie nicht ohne Anlaß
aufbrausen würden? In diesem Falle... (Er bewegt sich, als ob er
geben wolle.)
(McNaughtan jämmerlich:) Nein nein, lassen Sie mich doch! Ich bin
genug herumgestoßen und gequält worden--ich verspreche Ihnen, mein
Möglichstes zu tun. Aber wenn dieses Mädchen sich wieder erlauben
wird, mit mir so zu sprechen und mich so anzusehen--(Er bricht ab und
vergräbt den Kopf in die Hände.)
(McComas beschwichtigend:) Na na, es wird schon alles gut werden, wenn
Sie nur dulden und sich gedulden wollen. Nehmen Sie sich zusammen, es
kommt jemand.
(McNaughtan ist zu sehr entmutigt und niedergeschlagen, sich viel
daraus zu machen, er verändert seine Stellung kaum.)
(Gloria kommt aus dem Garten. McComas geht ihr bis an die Fenstertür
entgegen, so daß er zu ihr sprechen kann, ohne von McNaughtan gehört
zu werden.)
(McComas.) Hier ist Ihr Vater, Fräulein Clandon. Seien Sie gut zu ihm.
Ich will Sie einen Augenblick mit ihm allein lassen. (Er geht in
den Garten.)
(Gloria tritt ein und geht kühl bis in die Mitte des Zimmers.)
(McNaughtan blickt sich betroffen um:) Wo ist McComas?
(Gloria gleichgültig, aber nicht unliebenswürdig:) Hinausgegangen, um
uns allein zu lassen. Wahrscheinlich aus Zartgefühl. (Sie bleibt
neben ihm stehen und siebt ihn sonderbar an:) Nun, Vater?
(McNaughtan eine Art Galgenhumor durchbricht seine Hilflosigkeit:) Nun,
Tochter? (Sie betrachten einander einen Augenblick mit
melancholischem Humor.
(Gloria.) Reichen wir uns die Hände. (Sie reichen einander die Hände.)
(McNaughtan ihre Hand haltend:) Mein liebes Kind, ich habe mich heute
nachmittag leider zu sehr ungehörigen Worten über deine Mutter
hinreißen lassen.
(Gloria.) O bitte, entschuldigen Sie sich nicht. Ich bin heute selbst
sehr hochmütig und eingebildet gewesen; ich bin seitdem zur Vernunft
gekommen--o ja, ich bin zur Vernunft gebracht worden! (Sie setzt sich
neben seinen Stuhl auf den Boden.)
(McNaughtan.) Was ist dir zugestoßen, mein Kind?
(Gloria.) O sprechen wir nicht davon! Ich habe mich als die Tochter
meiner Mutter aufgespielt, aber das bin ich nicht. Ich bin die
Tochter meines Vaters. (Sieht ihn an; scherzend:) Das ist ein tiefer
Sturz--nicht wahr?
(McNaughtan ärgerlich:) Was! (Sie behält ihren wunderlichen Ausdruck
bei. Er streckt die Waffen:) Nun ja, liebes Kind, ich nehme an, daß
du recht hast... es wird wohl so sein. (Sie nickt liebenswürdig.) Ich
fürchte, ich bin manchmal etwas reizbar, aber ich weiß immer, was
recht und billig ist, selbst wenn ich nicht danach handle... Kannst
du das glauben?
(Gloria.) Das glauben?... Das ist doch ganz mein Fall--auf ein Haar!
Ich weiß auch stets, was recht ist und meiner würdig und stark und
edel--genau so gut, wie sie es weiß. Aber, ach! ich tue Dinge... und
ich gestatte anderen Leuten, Dinge zu tun--!
(McNaughtan etwas mürrisch, gegen seinen Willen:) "So gut, wie sie es
weiß"... du meinst deine Mutter!...
(Gloria rasch:) Ja, meine Mutter. (Sie wendet sich auf den Knien zu
ihm hin und ergreift seine Hände.) Nun hören Sie mich an: keinen
Verrat an ihr--kein Wort--keinen Gedanken gegen sie! Sie steht über
uns--über Ihnen und mir--himmelhoch über uns!--Sind Sie damit
einverstanden?
(McNaughtan.) Ja ja, ganz wie du willst, mein liebes Kind.
(Gloria ist nicht befriedigt, läßt seine Hände los und zieht sich von
ihm zurück:) Sie mögen sie nicht?
(McNaughtan.) Mein Kind, du bist nicht mit ihr verheiratet
gewesen--aber ich! (Sie steht langsam auf und betrachtet ihn mit
wachsender Kälte.) Sie hat mir ein großes Unrecht zugefügt, indem sie
mich heiratete, ohne mich wirklich zu lieben.--Aber nachher war alles
Unrecht auf meiner Seite, das glaube ich selbst. (Er reicht ihr
wieder die Hand.)
(Gloria ergreift sie; fest und warnend:) Nehmen Sie sich in acht--das
ist ein gefährliches Thema. Mit meinen Gefühlen, meinen elenden,
feigen, weiblichen Gefühlen--kann ich auf Ihrer Seite stehen; aber mit
meinem Gewissen stehe ich auf der Seite meiner Mutter.
(McNaughtan.) Ich bin mit dieser Teilung sehr zufrieden, liebes Kind.
Ich danke dir.
(Dr. Valentine tritt ein, Gloria wird sofort vorsätzlich hochmütig.)
(Dr. Valentine.) Entschuldigen Sie, aber es ist mir nicht gelungen,
einen Diener zu finden, mich anzumelden. Selbst der unfehlbare
William scheint auf dem Maskenball zu sein. Ich wäre auch gern
hingegangen, mir fehlen aber die fünf Schillinge für eine
Eintrittskarte.--Wie geht es Ihnen, McNaughtan? Besser--was?
(McNaughtan.) Ja, ich bin wieder Herr meiner Sinne, Doktor, ohne Ihnen
dafür Dank schuldig zu sein.
(Dr. Valentine.) Was sagen Sie zu Ihrem undankbaren Vater, Fräulein
Clandon? Ich habe ihn von einem qualvollen Schmerz befreit, und er
beschimpft mich dafür.
(Gloria kalt:) Ich bedaure, daß meine Mutter nicht da ist, Sie zu
empfangen; es fehlen noch ein paar Minuten an neun, und der Herr, von
dem Herr McComas sprach, der Rechtsanwalt, ist noch nicht gekommen.
(Dr. Valentine.) Doch, doch--ich bin ihm begegnet und habe ihn
gesprochen. (Mit lustiger Bosheit:) Der wird Ihnen gefallen, Fräulein
Clandon--er ist der Verstand in Person; man kann sein Gehirn förmlich
arbeiten hören.
(Gloria ignoriert die Stichelei:) Wo ist er?
(Dr. Valentine.) Er hat sich eine falsche Nase besorgt und ist auf den
Maskenball gegangen.
(McNaughtan knurrig, sieht auf seine Uhr:) Es scheint, daß alle auf
diesen Maskenball gegangen sind, statt die festgesetzte Stunde unserer
Zusammenkunft einzuhalten.
(Dr. Valentine.) Oh, er wird pünktlich erscheinen--ich traf ihn schon
vor einer halben Stunde. Ich mochte ihn nicht um fünf Schillinge
anpumpen und ihn begleiten, deshalb schloß ich mich dem Volke an und
habe vor dem Gitter so lange zugesehen, bis Fräulein Clandon durch
diese Glastür ins Hotel getreten war.