Man Kann Nie Wissen
(Komödie in vier Akten)
George Bernard Shaw
Übersetzung von Siegfried Trabisch
Die erste deutsche Ausgabe dieser Komödie führte den Titel "Der
verlorene Vater".--Die Hauptperson heißt im Original nicht Fergu
McNaughtan, sondern Fergus Crampton. Shaw, der Hauptmann sehr verehrt,
wollte die festumrissene Vorstellung, die wir mit dem Namen Crampton
verbinden, nicht stören und änderte ihn in McNaughtan um, womit
zugleich die Übertragung eines Wortwitzes möglich wurde, der im
Original eine Rolle spielt.
Anmerkung des Übersetzers.
PERSONEN
Frau Clandon
Gloria }
Dolly } ihre Kinder
Philip }
Dr. Valentine, Zahnarzt
Fergus McNaughtan
McComas, Rechtsanwalt
Justizrat Bohun
Ein Kellner
Ein Stubenmädchen
Ein Kellnerjunge
Ein Koch
Ort: Ein englisches Seebad.
Zeit: 1896.
ERSTER AKT
(An einem schönen Augustmorgen des Jahres 1896 im Operationszimmer
eines Zahnarztes. Es ist nicht das übliche winzige Londoner Loch,
sondern das beste Zimmer einer möblierten Wohnung an der
Strandpromenade in einem vornehmen Seebad. Der Operationsstuhl mit
Gasschlauch und Zylinder steht zwischen der Mitte des Zimmers und
einer der Ecken. Wenn man durch das dem Stuhl gegenüberliegende
Fenster in das Zimmer hineinsieht, erblickt man den Kamin in der Mitte
der dem Beschauer gegenüberstehenden Wand. Links eine Tür. Über
dem Kaminsims befindet sich ein Diplom in einem Rahmen. Vor dem Kamin
steht ein breiter schwarzlederner Sessel, rechts in der Ecke ein
sauberer Schemel und eine Bank mit Schraubstock, Werkzeugen, einem
Mörser und einem Stößel darauf. In der Nähe dieser Bank befindet sich
ein dünnes peitschenartiges Gerät, das mit einem Ständer, einem Pedal
und einer übertrieben großen Kurbel versehen ist. Da man dieses
Marterwerkzeug als Zahnbohrer erkennt, blickt man schaudernd nach
links, wo man ein anderes Fenster, darunter einen Schreibtisch mit
Löscher und Mappe sieht. Vor dem Schreibtisch ein Stuhl. In seiner
Nähe, gegen die Türe zu, ein lederüberzogenes Sofa. Die
gegenüberliegende rechtsseitige Wand wird hauptsächlich von einem
langen Büchergestell eingenommen. Der Operationsstuhl steht dem
Beschauer dicht gegenüber; in handlicher Nähe links davon befindet
sich der Instrumentenschrank. Man bemerkt, daß die zahnärztliche
Einrichtung samt Apparaten neu ist. Die mit einem Muster von
Girlanden und Urnen geschmückten Tapeten im Geschmack eines
Leichenbestatters, der Teppich mit seiner symmetrischen Zeichnung von
reichen, kohlkopfartigen Blumensträußen, der gläserne Gaskronleuchter
mit Prismen, die ebenfalls prismengeschmückten, vergoldeten, blauen
Armleuchter in den Ecken des Kaminsimses und die Goldbronzeuhr unter
einem Glassturz zwischen ihnen, deren Nutzlosigkeit durch eine billige
amerikanische Uhr betont wird, die respektlos daneben gestellt ist und
jetzt auf zwölf Uhr mittags zeigt: alles das vereinigt sich mit dem
schwarzen Marmor, der dem Kamin das Ansehen einer Familiengruft en
miniature gibt, um Kaufmannsanständigkeit im Anfang der Regierung der
Königin Viktoria, den Glauben ans Geld, Bibelfetischismus, Furcht vor
der Hölle, die immer im Kampf mit der Furcht vor der Armut liegt,
instinktives Entsetzen vor dem leidenschaftlichen Charakter der Kunst,
der Liebe und der römisch-katholischen Kirche, und im allgemeinen die
ersten Früchte der Geldherrschaft in den Anfängen der industriellen
Revolution anzudeuten.)
(Nicht das Leiseste von diesen Traditionen liegt über den zwei
Personen, die jetzt gerade im Zimmer sind. Die eine davon, eine sehr
hübsche, sehr kleine Dame, deren winzige Figur mit der elegantesten
Lebhaftigkeit gekleidet ist, gehört einer späteren Generation an: sie
ist kaum achtzehn Jahre alt. Dieses liebe kleine Geschöpf gehört
offenbar weder zu dem Zimmer, noch auch zu dem Lande; denn seine
Gesichtsfarbe, obgleich sehr zart, ist von einer heißeren Sonne als
der Englands gebräunt worden; aber trotzdem besteht für einen sehr
feinen Beobachter ein Zusammenhang zwischen der jungen Dame und
England. Sie hält nämlich ein Wasserglas in der Hand, und auf ihrem
winzigen, energisch geschnittenen Mund wie auf ihren eigentümlich
geschweiften Augenbrauen bemerkt man eine sich rasch verziehende Wolke
spartanischer Hartnäckigkeit. Wenn man die kleinste Gewissenslinie
zwischen ihren Augenbrauen entdecken könnte, würde ein Pietist wohl
die schwache Hoffnung hegen, in ihr ein Schaf im Wolfspelz zu
finden--ihr Kleid ist nämlich verwünscht hübsch--aber sowie die Wolke
flieht, ist ihre Stirnlinie so vollkommen frei von jedem
Sündenbewußtsein wie die eines Kätzchens.)
(Der Zahnarzt, der sie mit der Selbstzufriedenbeit des erfolgreichen
Operateurs betrachtet, ist ein junger Mann von ungefähr dreißig Jahren.
Er macht nicht sehr den Eindruck eines Arbeitsmenschen: unter der
geschäftsmäßigen Art und Weise des neuetablierten Zahnarztes, der auf
der Suche nach Patienten ist, bemerkt man die leichtsinnige
Liebenswürdigkeit des noch unverheirateten, auf der Suche nach
lustigen Abenteuern befindlichen jungen Mannes von Welt. Er ist nicht
ohne Ernst im Benehmen, aber seine straff gespannten Nasenflügel
stempeln diesen zum Ernste eines Humoristen. Seine Augen sind klar,
flink, von skeptisch mäßiger Größe und doch ein wenig wagelustig;
seine Stirn ist prächtig, hinter ihr ist viel Raum; seine Nase und
sein Kinn sind kavaliermäßig hübsch. Im ganzen ein anziehender,
beachtenswerter Anfänger, dessen Aussichten ein Geschäftsmann ziemlich
günstig einschätzen würde.)
(Die junge Dame ihm das Glas reichend:) Danke schön. (Trotz ihrer
mattgelben Hautfarbe spricht sie ohne den geringsten fremden Akzent.)
(Der Zahnarzt setzt es auf den Rand des Instrumentenschrankes:) Das
war mein erster Zahn!
(Die junge Dame entsetzt:) Ihr erster?!... Wollen Sie damit sagen,
daß Sie an mir angefangen haben, zu praktizieren?
(Der Zahnarzt.) Jeder Zahnarzt muß einmal mit jemandem den Anfang
machen.
(Die junge Dame.) Jawohl, mit jemandem im Spital--aber nicht mit
Leuten, die bezahlen.
(Der Zahnarzt lachend:) Oh, das Spital zählt natürlich nicht!... Ich
meinte nur: mein erster Zahn in meiner Privatpraxis.--Warum wollten
Sie kein Lachgas haben?
(Die junge Dame.) Weil Sie mir sagten, daß das noch fünf Schilling
extra kostete.
(Der Zahnarzt unangenehm berührt:) Oh, sagen Sie das nicht! Da hab'
ich das Gefühl, als hätte ich Ihnen wegen der fünf Schillinge weh
getan.
(Die junge Dame mit kühler Dreistigkeit:) Nun, das haben Sie auch.
(Sie steht auf:) Warum auch nicht?... Es ist Ihr Beruf, den Leuten
weh zu tun. (Es macht ihm Spaß, in dieser Weise behandelt zu werden,
und er kichert heimlich, während er fortfährt, seine Instrumente zu
reinigen und wieder wegzulegen. Sie schüttelt ihr Kleid zurecht,
blickt sich neugierig um und gebt an das Fenster.) Sie haben aber
wirklich eine schöne Aussicht auf das Meer von diesen Zimmern aus!
--Sind sie teuer?
(Der Zahnarzt.) Ja.
(Die junge Dame.) Ihnen gehört aber nicht das ganze Haus?
(Der Zahnarzt.) Nein.
(Die junge Dame kippt den Stuhl, der vor dem Schreibtisch steht, um
und betrachtet ihn kritisch, während sie ihn auf einem Fuß
herumwirbelt:) Ihre Einrichtung ist aber nicht die allermodernste;
nicht wahr?
(Der Zahnarzt.) Sie gehört dem Hausherrn.
(Die junge Dame.) Gehört ihm dieser hübsche bequeme Rollstuhl auch?
(Sie zeigt auf den Operationsstuhl.)
(Der Zahnarzt.) Nein, den habe ich gemietet.
(Die junge Dame geringschätzig:) Das habe ich mir gedacht! (Sie
blickt umher, um noch mehr Schlüsse ziehen zu können:) Sie sind wohl
noch nicht lange hier?
(Der Zahnarzt.) Seit sechs Wochen.--Wünschen Sie sonst noch etwas zu
wissen?
(Die junge Dame, an der die Anspielung verloren gebt:) Haben Sie
Familie?
(Der Zahnarzt.) Ich bin unverheiratet.
(Die junge Dame.) Selbstverständlich. Das sieht man.--Ich meine
Schwestern... eine Mutter... und sowas.
(Der Zahnarzt.) Nicht hier am Ort.
(Die junge Dame.) Hm... Wenn Sie sechs Wochen hier sind und mein Zahn
der erste war, dann kann Ihre Praxis nicht sehr groß sein?
(Der Zahnarzt.) Bis jetzt nicht. (Er schließt den Schrank, nachdem er
alles in Ordnung gebracht hat.)
(Die junge Dame.) Nun denn, Glück auf! (Sie nimmt ihre Börse aus der
Tasche:) Fünf Schillinge macht es, sagten Sie, nicht wahr?
(Der Zahnarzt.) Fünf Schillinge.
(Die junge Dame nimmt ein Fünf-Schilling-Stück heraus:) Rechnen Sie
für jede Operation fünf Schillinge?
(Der Zahnarzt.) Ja.
(Die junge Dame.) Warum?
(Der Zahnarzt.) Das ist mein System. Ich bin eben, was man einen
Fünf-Schilling-Zahnarzt nennt.
(Die junge Dame.) Wie nett!--Hier! (Sie hält das Silberstück in die
Höhe:) Ein hübsches neues Fünf-Schilling-Stück--Ihre erste Einnahme!
Machen Sie mit dem Instrument, mit dem Sie den Leuten die Zähne
anbohren, da ein Loch hinein und tragen Sie's an Ihrer Uhrkette.
(Der Zahnarzt.) Danke sehr.
(Das Stubenmädchen erscheint an der Tür:) Der Bruder der jungen Dame.
(Die hübsche Miniaturausgabe eines Mannes, augenscheinlich der
Zwillingsbruder der jungen Dame, tritt lebhaft ein. Er trägt einen
terrakottfarbenen Kaschmiranzug; der elegant geschnittene Rock ist mit
brauner Seide gefüttert. In der Hand hält er einen braunen Zylinder
und dazu passende, loh*braune Handschuhe. Er hat die mattgelbe
Gesichtsfarbe seiner Schwester und ist nach demselben kleinen Maßstabe
gebaut wie sie. Aber er ist elastisch, muskulös und von
entschlossenen Bewegungen und hat eine unerwartet tiefe und schneidige
Sprechwiese. Er besitzt vollendete Manieren und einen vollendeten
persönlichen Stil, um den ihn ein doppelt so alter Mann beneiden
könnte. Anmut und Selbstbeherrschung sind ihm Ehrensache, und
obgleich dies, richtig betrachtet, nur die moderne Art knabenhafter
Verlegenheit ist, so ist doch die Wirkung seines Wesens auf ältere
Leute verblüffend und wäre bei einem weniger für sich einnehmenden
jungen Menschen unerträglich. Er ist die Schlagfertigkeit selbst und
hat im Augenblick seines Eintretens eine Frage bereit:)
(Der junge Mann.) Komme ich noch zu rechter Zeit?
(Die junge Dame.) Nein, es ist schon alles vorüber.
(Der junge Mann.) Hast du geheult?
(Die junge Dame.) Oh, fürchterlich! Herr Doktor Valentine--mein
Bruder Phil. Phil: das ist Herr Dr. Valentine, unser neuer Zahnarzt.
(Dr. Valentine und Philip verneigen sich voreinander. Sie fährt in
einem Atem fort:) Er ist erst seit sechs Wochen hier und ist
Junggeselle. Das Haus gehört ihm nicht, und die Einrichtung gehört
seinem Hausherrn, aber die nötigen Gegenstände für seinen Beruf hat er
gemietet. Er hat meinen Zahn wundervoll auf den ersten Ruck
herausgekriegt. Und wir sind sehr gute Freunde.
(Philip.) Du hast wohl eine Menge Fragen gestellt, was?
(Die junge Dame als ob sie unfähig wäre, das zu tun:) O nein!
(Philip.) Das freut mich. (Zu Dr. Valentine:) Sehr liebenswürdig von
Ihnen, nichts gegen uns zu haben, Herr Doktor. Wir sind nämlich noch
nie in England gewesen, und unsere Mutter hat uns darauf vorbereitet,
daß die Leute uns hier einfach nicht ertragen würden.--Kommen Sie,
frühstücken Sie mit uns.
(Dr. Valentine erschreckt über das Tempo, in dem ihre Bekanntschaft
fortschreitet, ringt nach Atem, aber er hat keine Gelegenheit zu
sprechen, da die Unterhaltung der Zwillinge reißend und andauernd ist.)
(Die junge Dame.) O ja, sagen Sie zu, Herr Doktor!
(Philip.) Im Marine-Hotel um halb zwei.
(Die junge Dame.) Wir werden dann Mama erzählen können, daß ein
achtbarer Engländer versprochen hat, mit uns zu frühstücken.
(Philip.) Kein Wort mehr, Herr Doktor; Sie werden kommen!
(Dr. Valentine.) Kein Wort mehr?... Ich habe überhaupt noch kein Wort
gesagt... Darf ich fragen, mit wem ich eigentlich die Ehre habe?...
Es ist mir wirklich ganz unmöglich, mit zwei mir vollständig
Unbekannten im Marine-Hotel zu frühstücken.
(Die junge Dame vorlaut:) Ach, was für ein Unsinn!... Ein Patient in
sechs Wochen! Kann Ihnen doch ganz einerlei sein?
(Philip gesetzt:) Nein, Dolly: meine Menschenkenntnis bestätigt Herrn
Doktor Valentines Ansicht; er hat recht.--Erlauben Sie, daß ich Ihnen
Fräulein Dorothea Clandon, gewöhnlich Dolly genannt; vorstelle. (Dr.
Valentine verneigt sich vor Dolly. Sie nickt ihm zu.) Ich bin Philip
Clandon--wir sind aus Madeira--aber trotzdem bis jetzt ganz achtbare
Leute.
(Dr. Valentine.) Clandon?... Sind Sie verwandt mit--
(Dolly mit einem unerwarteten Verzweiflungsschrei:) ja, wir sind's!
(Dr. Valentine erstaunt:) Verzeihen Sie--
(Dolly.) Ja, ja, wir sind es!... Alles ist zu Ende, Phil! Man weiß
alles über uns in England! (Zu Dr. Valentine:) Oh, Sie können sich
nicht vorstellen, wie entsetzlich es ist, mit einer berühmten
Persönlichkeit verwandt zu sein und nirgends um seiner selbst willen
geschätzt zu werden.
(Dr. Valentine.) Aber entschuldigen Sie: der Herr, an den ich dachte,
ist durchaus nicht berühmt.
(Dolly ihn anstarrend:) Der Herr?...
(Philip ist auch erstaunt.)
(Dr. Valentine.) Ja. Ich wollte Sie fragen, ob Sie zufällig die
Tochter des Herrn Densmore Clandon aus Newbury Hall sind.
(Dolly ausdruckslos:) Nein.
(Philip.) Na, Dolly, woher weißt du das?
(Dolly aufgeheitert:) Oh, ich vergaß, natürlich--vielleicht bin ich's!
(Dr. Valentine.) Wissen Sie das nicht?
(Philip.) Ganz und gar nicht.
(Dolly.) Ein kluges Kind--
(Philip sie kurz unterbrechend:) Sch! (Dr. Valentine fährt bei diesem
Laut ängstlich zusammen. Obwohl er kurz ist, klingt er doch so, als
ob ein Stück Seidenzeug durch einen Blitz entzweigeschnitten würde.
Er ist das Resultat langer Übung und soll Dollys Indiskretion
verhindern.) Die Sache ist die, Herr Doktor: wir sind die Kinder der
berühmten Frau Lanfrey Clandon, einer Schriftstellerin von großem
Ruf--in Madeira. Kein Haushalt ist vollkommen ohne ihre Werke. Wir
sind nach England gekommen, um diese Werke los zu werden. Sie heißen
"Abhandlungen für das zwanzigste Jahrhundert".
(Dolly.) Die Küche des zwanzigsten Jahrhunderts!--
(Philip.) Das Glaubensbekenntnis des zwanzigsten Jahrhunderts--
(Dolly.) Die Kleidung des zwanzigsten Jahrhunderts--
(Philip.) Das Betragen des zwanzigsten Jahrhunderts--
(Dolly.) Die Kinder des zwanzigsten Jahrhunderts--
(Philip.) Die Eltern des zwanzigsten Jahrhunderts--
(Dolly.) Geheftet einen halben Dollar--
(Philip.) Oder auf Leinwand aufgezogen, zum häufigen Familiengebrauch,
zwei Dollar. In keinem Hause sollten diese Werke fehlen.--Lesen Sie
sie, Herr Doktor; sie werden Ihre Seele veredeln.
(Dolly.) Aber nicht, solange wir hier sind, wenn ich bitten darf.
(Philip.) Richtig! Wir ziehen Leute mit unveredelten Seelen vor.
Unsere eigene Seele befindet sich nämlich in dieser frischen und
unverdorbenen Verfassung.
(Dr. Valentine zweifelhaft:) Hm!
(Dolly ahmt ihn fragend nach:) Hm...?--Phil, er zieht Leute vor, deren
Seelen veredelt sind.
(Philip.) Wenn das der Fall ist, müssen wir ihn mit dem andern
Familienglied bekannt machen, mit der "Frau des zwanzigsten
Jahrhunderts", unserer Schwester Gloria!
(Dolly dithyrambisch:) Dem Meisterwerk der Schöpfung!
(Philip.) Der Tochter der Wissenschaft!
(Dolly.) Dem Stolz Madeiras!
(Philip.) Dem Inbegriff der Schönheit!
(Dolly wird plötzlich prosaisch:) Unsinn, keinen Teint!
(Dr. Valentine verzweifelt:) Darf ich endlich auch ein Wort sagen?
(Philip höflich:) Entschuldigen Sie--bitte.
(Dolly sehr liebenswürdig:) Verzeihen Sie.
(Dr. Valentine versucht, väterlich zu ihnen zu sein:) Ich muß euch
jungen Leuten wirklich einen Wink geben.
(Dolly bricht wieder aus:) Na, das ist wirklich gut! Wie alt sind Sie?
(Philip.) Über dreißig.
(Dolly.) Nein.
(Philip zuversichtlich:) Doch!
(Dolly emphatisch:) Siebenundzwanzig!
(Philip unerschütterlich:) Dreiunddreißig!
(Dolly.) Unsinn!
(Philip zu Dr. Valentine:) Ich wende mich an Sie, Herr Doktor!
(Dr. Valentine sich verwahrend:) Nein wirklich--(Er ergibt sich:)
Einunddreißig.
(Philip zu Dolly:) Du hast also unrecht gehabt!
(Dolly.) Du auch!
(Philip plötzlich gewissenhaft:) Wir vergessen unsere gute Erziehung,
Dolly.
(Dolly reuig:) Ja, das tun wir.
(Philip sich entschuldigend:) Wir haben Sie unterbrochen, Herr Doktor.
(Dolly.) Ich glaube, Sie waren eben im Begriff, unsere Seele zu
veredeln.
(Dr. Valentine.) Tatsache ist, daß Ihr--
(Philip ihm zuvorkommend:) Unser Aussehen?...
(Dolly.) Unsere Manieren?...
(Dr. Valentine ad misericordiam:) Ich beschwöre Sie, lassen Sie mich
sprechen!
(Dolly.) Die alte Geschichte--wir reden zu viel!
(Philip.) Das tun wir. Schweigen wir alle beide! (Er setzt sich auf
den Arm des Operationsstuhles.)
(Dolly.) Mm! (Sie setzt sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und
hält ihre Lippen mit den Fingerspitzen zu.)
(Dr. Valentine.) Danke. (Er holt den Schemel von der Bank in der Ecke,
stellt ihn zwischen sie und setzt sich mit einer richterlichen Miene.
Sie beobachten ihn mit größtem Ernst. Er wendet sich zuerst an Dolly:
) Darf ich Sie vor allem fragen, ob Sie schon jemals in einem
englischen Seebad gewesen sind? (Sie schüttelt langsam und feierlich
den Kopf. Er wendet sich zu Phil, der auch rasch und ausdrucksvoll
seinen Kopf schüttelt.) Das habe ich mir gedacht!... Nun, Herr
Clandon, unsere Bekanntschaft ist erst von kurzer Dauer, aber von
großer Redseligkeit gewesen, und ich habe genug beobachtet, um
überzeugt zu sein, daß Sie beide keine Ahnung haben, was das Leben in
einem englischen Seebade bedeutet. Glauben Sie mir, es kommt weder
auf die Manieren noch auf das Aussehen an... was das betrifft,
genießen wir eine in Madeira unbekannte Freiheit. (Dolly schüttelt
heftig den Kopf.) O ja, das dürfen Sie mir glauben. Lord de Crescis
Schwester radelt in Kniehosen, und die Pastorsfrau tritt für
Reformkleider ein und trägt hygienische Schuhe. (Dolly blickt
verstohlen nach ihren eigenen Schuhen. Dr. Valentine bemerkt das und
fügt flink hinzu:) Nein, das ist nicht die Art Schuh, die ich meine.
(Dollys Schuh verschwindet.) Wir machen uns nicht viel aus Kleidern
und Manieren in England, weil wir, als Volk, weder gut gekleidet sind
noch Manieren haben. Aber--und nun frage ich Sie: Nehmen Sie's mir
nicht übel, wenn ich aufrichtig bin? (Sie nicken.) Ich danke.--Nun,
eins müssen Sie in einem englischen, Seebad haben, bevor irgend jemand
sich mit Ihnen sehen lassen darf--und das ist ein Vater... ein
lebendiger oder ein toter. (Er sieht sie abwechselnd mit Nachdruck an.
Sie begegnen seinen Blicken wie Märtyrer.) Muß ich annehmen, daß Sie
diesen unumgänglich nötigen Bestandteil Ihrer gesellschaftlichen
Ausrüstung außer acht gelassen haben? (Sie stimmen ihm durch
melancholisches Kopfnicken zu.) Dann muß ich Ihnen leider sagen, falls
Sie die Absicht haben, längere Zeit hierzubleiben, daß es mir
unmöglich sein wird, Ihre liebenswürdige Einladung zum Frühstück
anzunehmen. (Er erheht sich, als ob er nun Schluß machen wollte, und
setzt den Schemel wieder an die Wand.)
(Philip erheht sich mit ernster Höflichkeit:) Komm, Dolly! (Er reicht
ihr den Arm.)
(Dolly.) Adieu. (Sie gehen zusammen mit vollendeter Würde zur Tür.)
(Dr. Valentine von Gewissensbissen überwältigt:) O bleiben
Sie--bleiben Sie! (Sie bleiben stehen und wenden sich Arm in Arm um.)
Ich komme mir wirklich wie ein vollkommener Tölpel vor.
(Dolly.) Daran ist Ihr Gewissen schuld, nicht wir.
(Dr. Valentine energisch, läßt allen Anspruch auf berufsmäßige
Manieren beiseite:) Mein Gewissen?... Mein Gewissen hat mich zugrunde
gerichtet.--Hören Sie mich an!... Ich habe mich schon zweimal in
verschiedenen Teilen Englands als achtbarer praktischer Arzt
niedergelassen. Beide Male bin ich gewissenhaft gewesen und habe
meinen Patienten statt dessen, was sie hören wollten, immer die nackte
Wahrheit gesagt. Die Folge davon war mein Ruin.--Nun habe ich mich
hier als Zahnarzt niedergelassen--als Fünf-Schilling-Zahnarzt, und
habe ein für allemal mit dem Gewissen abgeschlossen; dies hier ist
meine letzte Hoffnung. Ich habe mein letztes Goldstück für den Umzug
ausgegeben und habe noch keinen Schilling Miete bezahlt. Ich esse und
trinke auf Kredit, mein Hausherr ist reich wie ein Jude und hart wie
Stahl. In sechs Wochen habe ich fünf Schillinge verdient. Wenn ich
um Haaresbreite vom geraden Wege der strengsten Achtbarkeit abweiche,
so bin ich verloren.--Ist es unter solchen Umständen recht und billig,
mich zum Frühstück einzuladen, wenn Sie ihren eigenen Vater nicht
kennen?
(Dolly.) Na, schließlich ist unser Großvater Stiftsherr der
Lincoln-Kathedrale.--
(Dr. Valentine wie ein Schiffbrüchiger, der ein Segel am Horizont
sieht:) Was? Sie haben einen Großvater?
(Dolly.) Nur einen.
(Dr. Valentine.) Meine lieben guten jungen Freunde, um des Himmels
willen, ja warum habt ihr mir das denn nicht gleich gesagt?... Ein
Stiftsherr der Lincoln-Kathedrale! Das bringt natürlich alles in
Ordnung!--Entschuldigen Sie mich einen Augenblick; ich will nur meinen
Rock wechseln. (Er ist mit einem Satz an der Türe und verschwindet.
Dolly und Philip starren ihm erst nach, dann starren sie einander an.
Da sie ohne Publikum sind, sinken sie sofort in sich zusammen und
werden Alltagsmenschen.)
(Philip stößt Dollys Arm fort und gebt übellaunig zum Operationsstuhl:
) Dieser elende bankerotte Zahnschlosser tut so, als ob es für uns
eine Ehre wäre, ihm ein Frühstück zu bezahlen! Wahrscheinlich seit
Monaten sein erstes anständiges Essen! (Er gibt dem Stuhl einen Stoß,
als ob der Dr. Valentine wäre.)
(Dolly.) Das ist doch zu stark! Ich kann das nicht länger ertragen,
Phil! Hier in England fragt einen jeder Mensch sofort, ob man einen
Vater hat oder nicht.
(Philip.) Ich will es auch nicht länger ertragen. Mama muß uns sagen,
wer er war!
(Dolly.) Oder wer er ist! Vielleicht lebt er noch.
(Philip.) Das will ich nicht hoffen. Kein lebender Mensch soll sich
mir als Vater aufspielen!
(Dolly.) Vielleicht hat er aber eine Menge Geld?!
(Philip.) Das bezweifle ich. Meine Menschenkenntnis sagt mir, daß er
seine liebe volle Familie nicht so leicht los geworden wäre, wenn er
eine Menge Geld besessen hätte... Immerhin, trachten wir, die Dinge
im günstigsten Licht zu sehn. Verlaß dich darauf, er ist tot! (Er
geht an den Kamin, bleibt mit dem Rücken gegen das Feuer stehen und
streckt sich. Das Stubenmädchen erscheint. Die Zwillinge strahlen
gleich wieder in ihrem früheren Glanz, als sie sich beobachtet wissen.)
(Das Stübenmadchen.) Zwei Damen fragen nach Ihnen, gnädiges Fräulein.
Ich glaube, die Frau Mutter und das Fräulein Schwester.
(Frau Clandon und Gloria treten ein. Frau Clandon ist eine Dame
zwischen vierzig und fünfzig, mit einer leichten Neigung zu sanftem,
seßhaftem Fett und einem ansehnlichen Rest von Schönheit--letzterem
nicht um so weniger darum, als sie offenbar der alten Frauensitte
gefolgt ist, d.h. nach der ehelichen Verbindung keine Ansprüche in
dieser Beziehung mehr erhoben hat. Man könnte sie fast verdächtigen,
zu Hause eine Haube zu tragen. Sie trägt sich mit Kunst und gut, wie
es Frauen als ein Teil guter Manieren von Tanz- und Anstandslehrern
gelehrt wurde, bevor diese durch den modernen künstlerischen Kultus
von Schönheit und Gesundheit verdrängt wurden. Ihr flachsblondes, von
Silberfäden durchzogenes Haar ist gewellt, in der Mitte gescheitelt,
geflochten und hinten zu einem Knoten gewunden. Gute Beobachter eines
gewissen Alters können daraus schließen, daß Frau Clandon in ihrer
Mädchenzeit genügend Individualität und guten Geschmack besessen hat,
um sich der seither vergessenen Mode des Chignons energisch zu
widersetzen. In Kürze: sie ist in Kleidern und Manieren für ihr Alter
auffallend unmodern, aber sie gehört in das Vordertreffen ihrer
eigenen Zeit (etwa 1860-80), in einer eifersüchtig betonenden Haltung
des Charakters und Verstandes und darin, daß sie eher eine Frau mit
kultivierten Interessen als mit leidenschaftlich entwickelten
persönlichen Neigungen ist. Ihre Stimme und die Art, sich zu geben,
sind durchaus freundlich und menschlich. Sie gibt sich gewissenhaft
den gelegentlichen Liebkosungen hin, durch die ihre Kinder ihr ihre
Achtung bezeugen, jedoch machen Kundgebungen persönlichen Gefühls sie
heimlich verlegen. In ihr lebt mehr menschenfreundliches als
menschliches Gefühl; sie begt starke Gefühle, was soziale Fragen und
Grundsätze, nicht aber was Menschen betrifft; nur kann man beobachten,
daß diese ihre Verständigkeit und außerordentliche Zurückhaltung im
Persönlichen, die ihre Beziehungen zu Gloria und Phil nicht anders
erscheinen lassen, als es die zwischen ihr und den Kindern irgendeiner
anderen Frau sein könnten, in Dollys Fall nicht standhält;--obgleich
fast jedes Wort, das sie an diese richtet, notwendig ein Protest gegen
irgendeinen Bruch des Dekorums ist, so ist doch die Zärtlichkeit in
ihrer Stimme hier unverkennbar, und es ist nicht überraschend, daß
eine jahrelang so geartete Kundgebung Dolly rettungslos verzogen hat.)
(Gloria hat die Zwanzig kaum überschritten, ist aber eine viel
furchterregendere Dame als ihre Mutter. Sie ist die Verkörperung
geistigen Hochmuts. Ihrem heftigen, unduldsamen, berrschsüchtigen
Charakter hält bloß die Unerfahrenheit ihrer Jugend die Wage, und
gegen ihren Willen wird er in Zucht gehalten durch die fortgesetzte
Gefahr, von ihren jüngeren leichtlebigeren Geschwistern lächerlich
gemacht zu werden. Im Gegensatz zu ihrer Mutter ist sie ganz
Leidenschaft, und der Kampf zwischen ihrer Leidenschaft, ihrem
hartnäckigen Stolz und ihrer übertriebenen Feinheit hat eine eisige
Kälte des Betragens zur Folge. Bei einer häßlichen Frau würde das
alles abstoßend wirken; aber Gloria ist eine anziehende Frau. Ihr
tief kastanienbraunes Haar, ihre olivenfarbene Haut, ihre langen
Wimpern, die grauen beschatteten Augen, die oft wie Sterne glänzen,
zart geschweifte, volle Lippen und eine volle, geschmeidige, jedoch
muskelkräftige Gestalt sprechen in hochmütiger Freimütigkeit zu
Einbildungskraft und Sinnen. Man könnte sie für ein sehr gefährliches
Mädchen halten, wenn Glorias sittlicher Eifer nicht auch in einer sehr
edlen Stirn zum Ausdruck käme. Ihr tailor-made Kleid aus
safranbraunem Tuch erscheint von rückwärts gesehen konventionell, aber
eine Bluse von meergrüner Seide hebt das Konventionelle der Kleidung
mit einem Schlage auf und unterscheidet sie sofort--so wie die
Zwillinge--von den gewöhnlichen modernen Strandmenschen.)
(Frau Clandon macht ein paar Schritte vorwärts und blickt umher, um zu
sehen, wer da ist. Gloria, die es absichtlich vermeidet, den
Zwillingen irgendein Interesse für sie zu zeigen, geht an das Fenster
und blickt, in Gedanken versunken, ins Weite.--Das Stubenmädchen,
anstatt sich zurückzuziehen, schließt die Tür und wartet davor.)
(Frau Clandon.) Na, Kinder!... Hast du noch Zahnschmerzen, Dolly?
(Dolly.) Geheilt! Gott sei Dank. Ich hab' ihn mir herausziehen
lassen. (Sie setzt sich auf die Stufe des Operationsstuhls. Frau
Clandon nimmt den Sessel, der vor dem Schreibtisch steht.)
(Philip mischt sich vom Kamin aus gravitätisch ins Gespräch:) Und der
Zahnarzt, ein erstklassiger Fachmann von größtem Ruf, wird mit uns
frühstücken.
(Frau Clandon sieht sich ängstlich nach dem Stubenmädchen um:) Phil!
(Das Stubenmädchen.) Verzeihen Sie, gnädige Frau, ich warte auf den
Herrn Doktor. Ich habe ihm etwas auszurichten.
(Dolly.) Von wem?
(Frau Clandon verdrießlich:) Dolly!
(Dolly faßt ihre Lippen mit den Fingerspitzen und unterdrückt einen
kleinen Heiterkeitsausbruch.)
(Das Stubenmädchen.) Bloß vom Hausherrn, gnädiges Fräulein.
(Dr. Valentine kommt in einem blauen Serge-Anzug, mit einem Strohhut
in der Hand, in bester Laune zurück, ganz atemlos infolge der Eile,
mit der er sich umgezogen hat. Gloria wendet sich vom Fenster ab und
mustert ihn mit kalter Aufmerksamkeit.)
(Philip.) Erlauben Sie, daß ich Sie bekannt mache, Herr Doktor.--Meine
Mutter, Frau Lanfrey Clandon.
(Frau Clandon verneigt sich, Dr. Valentine verneigt sich, selbstbewußt
und der Situation gewachsen.) Meine Schwester Gloria. (Gloria
verneigt sich mit kalter Würde und setzt sich auf das Sofa. Dr.
Valentine verliebt sich auf den ersten Blick und ist entsetzlich
verwirrt. Er dreht seinen Hut nervös zwischen den Fingern und macht
Gloria eine schüchterne Verbeugung.)
(Frau Clandon.) Ich höre, daß wir das Vergnügen haben werden, Sie
heute zum Frühstück bei uns zu sehen, Herr Doktor?
(Dr. Valentine.) Ich danke--ich--wenn Sie gestatten--ich meine, wenn
Sie so liebenswürdig sein wollen--(Zum Stubenmädchen verdrossen:) Was
ist los?
(Das Stubenmädchen.) Der Hausherr wünscht Sie zu sprechen, bevor Sie
ausgehen, Herr Doktor.
(Dr. Valentine.) Sagen Sie ihm, daß ich mit vier Patienten beschäftigt
bin. (Die Clandons sehen überrascht aus, mit Ausnahme von Philip, der
unerschütterlich ruhig bleibt.) Aber wenn er etwa zwei Minuten warten
wollte, so würde ich hinunterkommen und ihn einen Augenblick sprechen.
(Er verläßt sich darauf, daß sie die Situation begreift.) Sagen Sie
ihm, daß ich zu tun habe, aber daß ich mit ihm zu sprechen wünsche.
(Das Stubenmädchen bestätigend:) Jawohl, Herr Doktor. (Sie gebt ab.)
(Frau Clandon im Begriff aufzustehen:) Ich fürchte, wir halten Sie auf.
(Dr. Valentine.) Durchaus nicht, durchaus nicht! Ihre Anwesenheit
wird hier von größtem Vorteil für mich sein. Ich bin nämlich seit
sechs Wochen die Miete schuldig und habe bis zum heutigen Tage keinen
einzigen Patienten gehabt. Meine Unterredung mit dem Hausherrn wird
nun infolge des sichtlichen Aufschwungs meines Geschäftes viel besser
ablaufen.
(Dolly ärgerlich:) O wie gräßlich langweilig von Ihnen, das alles
auszuplaudern! Und wir haben gerade eben behauptet, daß Sie ein
hochangesehener Fachmann allerersten Ranges sind.
(Frau Clandon entsetzt:) O Dolly! Dolly! wie kannst du so grob sein!
(Zu Dr. Valentine:) Bitte, entschuldigen Sie meine Kinder, diese
Barbaren, Herr Doktor!
(Dr. Valentine.) O bitte, bitte, ich bin schon an sie gewöhnt.--Wäre
es unbescheiden, wenn ich Sie bitten würde, fünf Minuten zu warten,
während ich unten meinen Hausherrn abfertige?
(Dolly.) Aber beeilen Sie sich, wir sind hungrig!
(Frau Clandon wieder protestierend:) Aber liebe Dolly!
(Dr. Valentine zu Dolly:) Gut, gut! (Zu Frau Clandon:) Besten Dank.
Sie sind sehr gütig--ich werde nicht lange ausbleiben. (Während er
abgeht, wirft er einen raschen Blick auf Gloria. Sie betrachtet ihn
sehr ernst. Er wird sehr verlegen.) Ich--äh--äh--ja--ich danke--ich
danke Ihnen... (Es gelingt ihm endlich, sich aus dem Zimmer zu
drücken, aber sein Abgang ist bemitleidenswert.)
(Philip.) Habt ihr gesehen? (Auf Gloria zeigend:) Liebe auf den
ersten Blick. Du kannst seinen Skalp deiner Sammlung einreihen,
Gloria.
(Frau Clandon.) Scht! scht... ich bitte dich, Phil! Er kann es gehört
haben!
(Philip.) Ach, der nicht--! (sich zu einer Szene vorbereitend:) Und
nun gib acht, Mama. (Er nimmt den Schemel, der neben der)
(Bank steht, und setzt sich majestätisch in die Mitte des Zimmers, die
vorhergegangene Demonstration Valentines kopierend.)
(Dolly fühlt, daß ihr Platz auf der Stufe des Operationsstuhles nicht
der Würde dieses Anlasses entspricht; sie erhebt sich und schaut
wichtig und entschlossen drein. Sie geht an das Fenster und lehnt
sich mit dem Rücken gegen die Kante des Schreibtisches, ihre Hände
hinter sich auf den Tisch legend.)
(Frau Clandon betrachtet beide, verwundert, was da kommen wird.)
(Gloria wird aufmerksam.)
(Philip streckt sich, legt die Handknöchel symmetrisch auf die Knie
und trägt seinen Fall vor:) Dolly und ich, wir haben letzthin
mancherlei besprochen, und infolge meiner Menschenkenntnis glaube ich
nicht, glauben wir nicht, daß du... (er spricht sehr pointiert, mit
Pausen zwischen den Worten:) die Tatsache in ihrer ganzen Tragweite
erfaßt hast...
(Dolly setzt sich mit einem Satz auf den Tisch:)... daß wir erwachsen
sind!
(Frau Clandon.) Wirklich?... In welcher Beziehung habe ich euch Anlaß
zu Klagen gegeben?
(Philip.) Nun, wir fangen an zu fühlen, daß es gewisse Dinge gibt,
über die du uns etwas mehr ins Vertrauen ziehen könntest.
(Frau Clandon erhebt sich.) Die ganze Sanftmut ihres Alters ist
plötzlich fort, und eine merkwürdig harte, würdevolle, aber verbissene,
vornehme, jedoch unerschütterliche Aufregung, die Art der alten
Vorkämpferin der Frauenbewegung, überkommt sie:) Phil, nimm dich in
acht! Vergiß nicht, was ich dich immer gelehrt habe! Es gibt zwei
Arten des Familienlebens, Phil, und deine Menschenkenntnis erstreckt
sich vorläufig nur auf die eine. (Rhetorisch:) Die Art, die du kennst,
ist auf gegenseitige Achtung gegründet, auf der Anerkennung des
Rechtes eines jeden Mitglieds des Hauses, auf Unabhängigkeit und
Selbstbestimmung (ihre Betonung des Wortes "Selbstbestimmung" ist
bedeutsam:) in seinen persönlichen Angelegenheiten. Und weil du
dieses Recht immer genossen hast, scheint es dir so selbstverständlich,
daß du es nicht mehr schätzest;--aber (mit beißender Schärfe:) es
gibt noch eine andere Art des Familienlebens. Ein Leben, in dem
Ehemänner die Briefe ihrer Frauen öffnen und von ihnen Rechenschaft
für jeden Pfennig ihrer Ausgaben und jeden Augenblick ihrer Zeit
verlangen, ein Familienleben, in welchem Frauen dasselbe von ihren
Kindern fordern! Ein Familienleben, in welchem kein Zimmer
abgeschlossen und keine Stunde heilig ist, in welchem Pflicht,
Gehorsam, Liebe, Heim, Sittlichkeit und Religion verabscheuenswerte
Tyrannen sind und das Dasein eine vulgäre Kette von Strafen und Lügen
bedeutet, von Zwang und Unterdrückung, Eifersucht, Argwohn und
gegenseitigem Beschuldigen--oh! Ich kann es dir nicht beschreiben: zu
deinem Glück weißt du nichts davon. (Sie setzt sich und holt Atem.
(Gloria hat mit glänzenden Augen zugehört und teilt den ganzen
Unwillen ihrer Mutter.)
(Dolly ganz unempfänglich für Rhetorik:) Siehe "Die Eltern des
zwanzigsten Jahrhunderts", Kapitel über Freiheit, passim.
(Frau Clandon berührt liebevoll ihre Schulter, selbst durch ein
Spottwort von ihr besänftigt:) Meine liebe Dolly, wenn du nur
wüßtest, wie froh ich bin, daß dir das alles nur einen Scherz
bedeutet, so bitter ernst es mir auch ist. (Wendet sich etwas
entschlossener zu Philip:) Phil, ich frage dich niemals nach deinen
Privatangelegenheiten; du wirst dir doch nicht einfallen lassen, mich
nach den meinigen zu fragen--wie?
(Philip.) Ich glaube, wir sind es uns selbst schuldig, zu erklären,
daß die Frage, die wir an dich richten wollen, ebensosehr unsere
Angelegenheit wie die deine ist.
(Dolly.) Überdies kann's nicht gut sein, daß jemand eine Menge Fragen
in seinem Innern verschlossen herumtragen soll. Das hast du getan,
Mama! Aber schau, wie entsetzlich es dafür aus mir hervorbricht.
(Frau Clandon.) Ich sehe, ihr müßt eure Frage stellen. Also tut es.
(Dolly) und (Philip gleichzeitig:) Wer--(Sie halten inne.)
(Philip.) Nun aber, Dolly! Soll ich diese Angelegenheit führen oder
du?
(Dolly.) Du.
(Philip.) Dann halte deinen Mund. (Dolly tut das in des Wortes
buchstäblicher Bedeutung:) Der Fall ist einfach folgender: Als der
Zahnschlosser--
(Frau Clandon protestierend:) Phil!
(Philip.) Zahnarzt ist ein häßliches Wort. Der Mann des Goldes und
des Elfenbeins fragte uns also, ob wir die Kinder des Herrn Densmore
Clandon aus Newbury Hall wären. Gemäß deinen, in der Abhandlung über
das Betragen im zwanzigsten Jahrhundert, ausgesprochenen Lehren und
deinen uns wiederholt persönlich erteilten Ermahnungen, die Zahl
unserer unnötigen Lügen zu beschränken, haben wir wahrheitsgetreu
geantwortet, daß wir es nicht wüßten.
(Dolly.) Das wußten wir auch nicht!
(Philip.) Sch! Die Folge davon war, daß der Gummiarchitekt bezüglich
der Annahme unserer Einladung große Schwierigkeiten machte, obgleich
ich bezweifle, daß er in den letzten vierzehn Tagen etwas anderes
genossen hat als Tee und Butterbrot.--Nun bin ich aber dank meiner
Menschenkenntnis zu der Überzeugung gelangt, daß wir einen Vater
gehabt haben müssen und daß du wahrscheinlich weißt, wer das war.
(Frau Clandon, deren Erregung wiederkehrt:) Halt, Phil! Dein Vater
bedeutet weder etwas für dich noch für mich. (Heftig:) Das genügt!
(Die Zwillinge schweigen, sind aber nicht befriedigt. Sie machen
lange Gesichter.)
(Gloria, die dem Streit aufmerksam zugehört hat, mengt sich plötzlich
ein. Vortretend:) Mutter, wir haben ein Recht zu wissen, wer unser
Vater ist!
(Frau Clandon erhebt sich und wendet sich zu ihr:) Gloria! "Wir?" Wer
ist "wir"?
(Gloria, entschlossen:) Wir drei. (Ihr Ton ist nicht mißzuverstehen,
sie setzt zum ersten Male ihre Entschlossenheit der ihrer Mutter
feindlich entgegen. Die Zwillinge treten sofort zum Feinde über.)
(Frau Clandon verletzt:) "Wir" pflegte sonst in deinem Munde "du und
ich" zu bedeuten, Gloria.
(Philip erhebt sich entschlossen und setzt den Schemel beiseite:) Wir
tun dir weh--also lassen wir's sein. Wir dachten nicht, daß es dich
so unangenehm berühren könnte. Ich will es nicht wissen.
(Dolly den Tisch verlassend:) Ich schon gar nicht.--Oh, schau nicht
so traurig drein, Mama! (Sie blickt ärgerlich auf Gloria.)
(Frau Clandon führt ihr Taschentuch rasch an die Augen und setzt sich
wieder:) Ich danke dir, Liebling. Ich danke dir, Phil.
(Gloria unerbittlich:) Es ist unser gutes Recht, das zu erfahren,
Mutter!
(Frau Clandon entrüstet:) Ah! Du bestehst also darauf!
(Gloria.) Sollen wir es nie erfahren?
(Dolly.) O Gloria--nicht doch! Das ist unmenschlich!
(Gloria mit ruhigem Hohn:) Was hat man davon, wenn man schwach ist?
Du hörst, was hier mit diesem Herrn geschehen ist, Mutter. Ganz
dasselbe ist auch mir widerfahren.
/*
(Frau Clandon) Was meinst du?
(Dolly) }(alle zusammen:) O erzähle!
(Philip) Was ist dir passiert?
*/
(Gloria.) Oh, nichts von Belang! (Sie wendet sich ab und geht an den
Armstuhl vor dem Kamin, in den sie sich, fast mit dem Rücken gegen die
andern, niederläßt. Da alle erwartungsvoll schweigen, fügt sie, über
die Schulter sprechend, mit gemachter Gleichgültigkeit hinzu:) An Bord
des Schiffes hat mir der erste Offizier die Ehre erwiesen, um meine
Hand anzuhalten.
(Dolly.) Nein, um meine Hand!
(Frau Clandon.) Der erste Offizier?... Ist das dein Ernst,
Gloria?--Was hast du ihm geantwortet? (Sich verbessernd:)
Entschuldige, ich bin nicht berechtigt, danach zu fragen.
(Gloria.) Die Antwort war ziemlich einfach: ein Mädchen, das nicht
einmal weiß, wer sein Vater ist, kann einen solchen Antrag nicht
annehmen.
(Frau Clandon.) Du wolltest ihn doch sicherlich auch nicht annehmen?
(Gloria wendet sich ein wenig um und erhebt ihre Stimme:) Nein. Aber
gesetzt den Fall, ich hätte Lust gehabt--
(Philip.) Hat diese Schwierigkeit dich auch abgehalten, Dolly?
(Dolly.) Nein. Ich habe seinen Antrag angenommen.
/*
(Gloria) Was?
(Frau Clandon) }(alle zugleich rufen:) Dolly!
(Philip) Na, ich muß sagen!
*/
(Dolly naiv:) Er sah so blödsinnig aus!
(Frau Clandon.) Aber warum hast du das getan, Dolly?
(Dolly.) Aus Spaß wahrscheinlich. Er mußte meinem Finger für den
Ehering Maß nehmen. Du hättest das auch getan.
(Frau Clandon.) Nein, Dolly, das hätte ich nicht! Tatsächlich hat mir
der erste Offizier einen Heiratsantrag gemacht; aber ich habe ihm
gesagt, er möge sich derlei Scherze für Frauen aufheben, die jung
genug wären, daran Spaß zu haben... Er scheint meinen Rat befolgt zu
haben. (Sie erhebt sich und geht an den Kamin:) Gloria, ich bedauere,
daß du mich für schwach hältst. Aber ich kann dir nicht sagen, was du
verlangst. Ihr seid alle zu jung.
(Philip.) Das ist ein überraschendes Außerachtlassen der Prinzipien
des zwanzigsten Jahrhunderts.
(Dolly zitierend:) "Beantworte alle Fragen deiner Kinder und
beantworte sie aufrichtig, sobald sie alt genug sind, sie zu stellen.
"--Siehe "Die Mutterpflichten im zwanzigsten Jahrhundert"--
(Philip.) Seite eins--
(Dolly.) Kapitel eins
(Philip.) Satz eins.
(Frau Clandon.) Liebe Kinder, ich habe nicht gesagt, daß ihr zu jung
seid, um es zu erfahren--ich sagte, ihr wäret zu jung, um von mir ins
Vertrauen gezogen zu werden.--Ihr seid sehr begabte Kinder--alle--
aber es freut mich um euretwillen, daß ihr noch sehr unerfahren seid
und daher auch sehr teilnahmslos. Ich aber habe Erfahrungen gesammelt,
über die ich nur mit Leuten sprechen könnte, die durchgemacht haben,
was ich durchgemacht habe. Ich hoffe, daß ihr euch für solche
Mitteilungen nie eignen werdet. Aber ich will dafür sorgen, daß ihr
alles, was ihr wissen möchtet, erfahren sollt.--Genügt euch das?
(Philip.) Ein neuer Vorwurf, Dolly!
(Dolly:) Wir sind teilnahmslos!
(Gloria lehnt sich in ihrem Stuhl vor und sieht ernst zu ihrer Mutter
auf:) Mutter, so hab' ich's nicht gemeint; teilnahmslos wollt' ich
nicht sein.
(Frau Clandon zärtlich:) Gewiß nicht, mein Herz.--Glaubst du, daß ich
dich nicht verstehe?
(Gloria sich erhebend:) Aber Mutter--
(Frau Clandon etwas zurückweichend:) Ja?...
(Gloria hartnäckig:) Es ist Unsinn, zu behaupten, daß unser Vater uns
nichts angehe.
(Frau Clandon zu plötzlichem Entschluß herausgefordert:) Erinnerst du
dich an deinen Vater?
(Gloria nachdenklich, als wenn die Erinnerung eine zärtliche wäre:)
Ich weiß es nicht bestimmt... ich glaube.
(Frau Clandon grimmig:) Du weißt es nicht bestimmt?
(Gloria.) Nein.
(Frau Clandon mit ruhiger Festigkeit:) Gloria, wenn ich dich jemals
geschlagen hätte, (Gloria weicht zurück, Philip und Dolly sind
unangenehm berührt; alle drei starren sie empört an, während sie
schonungslos fortfährt:)--absichtlich geschlagen--ganz klar
bewußt--in der Absicht, dir weh zu tun--mit einer eigens für diesen
Zweck gekauften Peitsche... glaubst du, daß du dich daran erinnern
würdest?
(Gloria stößt einen Ruf beleidigter Abwehr aus:) Oh!
(Frau Clandon:) Das würde deine letzte Erinnerung an deinen Vater
gewesen sein, wenn ich euch nicht von ihm fortgenommen hätte. Ich
habe ihn eurem Leben ferngehalten: haltet ihr ihn nun dem meinen fern,
indem ihr nie wieder in meiner Gegenwart von ihm redet.
(Gloria bedeckt einen Augenblick schaudernd ihr Gesicht mit den Händen.
Da sie jemanden vor der Tür hört, wendet sie sich ab und tut so, als
wäre sie damit beschäftigt, die Namen der Bücher im Bücherschrank zu
besehen.)
(Frau Clandon setzt sich auf das Sofa.)
(Dr. Valentine kehrt zurück:) Ich hoffe, ich habe Sie nicht allzu
lange warten lassen. Mein Hausherr ist wirklich ein außergewöhnlicher
Kerl!
(Dolly lebhaft:) Oh, erzählen Sie uns das!--Auf wie lange hat er Ihnen
die Zahlungsfrist verlängert?
(Frau Clandon außer sich über ihres Kindes Manieren:) Dolly! Dolly!
Liebe Dolly! Gewöhne dir doch das Fragen ab!
(Dolly verstellt demütig:) O bitte, verzeihen Sie... Aber Sie werden
es uns erzählen--nicht wahr, Herr Doktor?
(Dr. Valentine.) Die Miete will er gar nicht haben. Er hat sich an
einer brasilianischen Nuß einen Zahn gebrochen und mich gebeten, ihn
zu untersuchen und dann mit ihm zu frühstücken.
(Dolly.) So rufen Sie ihn herein und ziehen Sie ihm den Zahn gleich
aus; dann wollen wir ihn auch zum Frühstück mitnehmen! Sagen Sie dem
Mädchen, sie soll ihn heraufholen. (Sie läuft zur Glocke und klingelt
energisch. Dann wendet sie sich mit plötzlichem Bedenken zu Dr.
Valentine und fügt hinzu:) Ich nehme an, daß er ein angesehener Mann
ist... wirklich angesehen?
(Dr. Valentine.) Sicherlich! Nicht wie ich.
(Dolly.) Ganz gewiß?
(Frau Clandon ringt schwach nach Atem, aber ihre Kraft zum
Protestieren ist erschöpft.)
(Dr. Valentine.) Ganz gewiß!
(Dolly.) Dann los--bringen Sie ihn herauf!
(Dr. Valentine blickt zögernd auf Frau Clandon:) Ohne Zweifel würde er
entzückt sein, wenn--wenn--
(Frau Clandon erhebt sich und sieht auf die Uhr:) Ich würde mich sehr
freuen, Ihren Freund kennen zu lernen, wenn Sie ihn zum Kommen bewegen
können. Aber ich kann jetzt nicht auf ihn warten; ich habe um
dreiviertel eins im Hotel eine Verabredung mit einem alten Freund, den
ich achtzehn Jahre lang--seit ich England verließ--nicht gesehen habe.
--Wollen Sie mich also entschuldigen, bitte?
(Dr. Valentine.) Gewiß, Frau Clandon.
(Gloria.) Soll ich mitkommen?
(Frau Clandon.) Nein, mein Kind. Ich will allein sein.
(Sie geht ab, sichtlich noch ziemlich erregt. Dr. Valentine öffnet
ihr die Tür und folgt ihr.)
(Philip bedeutungsvoll zu Dolly:) Hm hm...
(Dolly bedeutungsvoll zu Philip:) Aha! (Das Stubenmädchen hat dem
Glockenzeichen Folge geleistet:) Führen Sie den alten Herrn herauf.
(Das Stubenmädchen verblüfft:) Gnädiges Fräulein?
(Dolly.) Den alten Herrn mit den Zahnschmerzen.
(Philip.) Den Hausherrn!
(Das Stubenmädchen.) Herrn McNaughtan?
(Philip.) Heißt er McNaughtan?
(Dolly zu Philip:) Das klingt rheumatisch, nicht wahr?
(Philip.) Wahrscheinlich hat er Gichtknoten.
(Dolly über die Schulter zum Stubenmädchen:) Führen Sie Herrn
Gichtknoten herauf.
(Das Stubenmädchen verbessernd:) Herrn McNaughtan, gnädiges Fräulein.
(Ab.)
(Dolly wiederholt den Namen wie eine Lektion:)
McNaughtan--McNaughtan--McNaughtan--McNaughtan... (Sie setzt sich
nachdenklich an den Schreibtisch:) Ich muß diesen Namen lernen, oder
der Himmel weiß, wie ich ihn nennen werde.
(Gloria.) Phil, kannst du an diese entsetzliche Mitteilung glauben,
die uns die Mutter eben über unsern Vater gemacht hat?
(Philip.) Oh, es gibt viele Menschen solchen Schlages. Der alte
Chamico pflegte seine Frau und seine Töchter mit einer Pferdepeitsche
durchzubleuen.
(Dolly verachtungvoll:) Ja, ein Portugiese!
(Philip.) Menschen, die Tiere sind, haben immer viel Ähnlichkeit, ob
es nun Portugiesen oder Engländer sind, Dolly. Verlaß dich auf meine
Menschenkenntnis. (Er nimmt seine Stellung auf dem Kaminteppich mit
einem verantwortlichen altklugen Aussehen wieder ein.)
(Gloria mit bekümmertem Gewissen:) Ich glaube nicht, daß wir jemals
unser altes Rätselspiel "wer mag unser Vater sein" wieder spielen
werden.--Dolly, tut's dir um deinen Vater leid--den Vater mit dem
vielen Geld?
(Dolly.) Und du, wie steht es mit deinem Vater, dem einsamen alten
Mann, mit dem zärtlichen kummervollen Herzen? Der ist dir nun auch
durch die Binsen gegangen, wie es scheint.
(Philip.) Es steht außer Zweifel, daß der alte Herr ein zerplatzter
Aberglauben ist. (Man hört Dr. Valentine vor der Tür mit jemandem
sprechen:) Aber still--er kommt!
(Gloria nervös:) Wer?
(Dolly.) Gichtknoten.
(Philip.) Sch! Aufgepaßt! (Sie nehmen ihre besten Manieren zusammen.)
(Philip setzt mit leiser Stimme zu Gloria hinzu:) Wenn er fein
genugist, daß man ihn zum Frühstück einladen kann, nick' ich Dolly zu;
und wenn sie dir zunickt, lad ihn sofort ein.
(Dr. Valentine kehrt mit seinem Hausherrn zurück. Herr Fergus
McNaughtan ist ein Mann von ungefähr sechzig Jahren, groß, abgehärtet
und sehnig, mit einem furchtbar hartnäckigen, übellaunigen,
habgierigen Mund und einer gebieterisch streitsüchtigen Stimme. Dabei
ist er ungemein nervös und empfindlich, was man an seiner dünnen,
durchsichtigen Haut und an seinen schmalen Fingern erkennen kann.
Seine daraus folgende Fähigkeit, unter der Unbeliebtheit, die sein
Temperament und seine Halsstarrigkeit über ihn bringen, stark zu
leiden, kommt in seinen ernsten, schmerzlichen Augen zum Ausdruck, in
dem klagenden Ton seiner Stimme, einem schmerzlichen Mangel an
Vertrauen auf das Willkommen, das man ihm bieten wird, und in einer
fortgesetzten, aber nicht sehr erfolgreichen Bemühung, seine angeboren
unhöflichen Manieren zu verbessern und seine Empfindlichkeit
abzustreifen. Seine kühn geschweiften Brauen und seine Stirn
verraten deutlich einen befähigten Menschen; ein Zeichen
beschränkter Geldmittel oder geschäftlichen Mißkredits ist an ihm
nicht bemerkbar. Er ist gut gekleidet und könnte auf den ersten
Blick für den wohlhabenden Chef einer von einer alten Familie der
Geschäftsaristokratie ererbten Firma gehalten werden. Sein
marineblaue Rock ist nicht nach dem üblichen modernen Muster; es ist
nicht gerade ein Lotsenrock, aber der Zuschnitt seines Anzugs, die
großen Knöpfe und breiten Aufschläge würden besser auf eine
Schiffswerft als in ein Kontor passen. Er hat Gefallen an Dr.
Valentine gefunden, der sich aus seiner Vierschrötigkeit nichts macht
und ihn mit einer respektlosen Menschlichkeit behandelt, für die er Dr.
Valentine heimlich dankbar ist.)
(Dr. Valentine.) Darf ich die Herrschaften bekannt machen?--Herr
McNaughtan--Fräulein Dorothea Clandon--Herr Philip Clandon--Fräulein
Gloria Clandon. (McNaughtan steht da und verbeugt sich nervös. Sie
verbeugen sich alle:) Nehmen Sie Platz, Herr McNaughtan.
(Dolly auf den Operationsstuhl zeigend:) Das ist der bequemste Stuhl,
Herr--McNaughtan.
(McNaughtan.) Ich danke. Aber will nicht das gnädige Fräulein da
sitzen--? (Er zeigt auf Gloria, die neben dem Stuhl steht.)
(Gloria.) Ich danke Ihnen, Herr McNaughtan. Wir wollen gerade gehn.
(Dr. Valentine weist ihn mit gutmütiger Entschiedenheit nach dem Stuhl:
) Setzen Sie sich--setzen Sie sich. Sie sind müde.
(McNaughtan.) Na, da ich weitaus der Älteste unter den Anwesenden bin,
darf ich vielleicht--(Er beendigt den Satz, indem er sich mit etwas
gichtischer Gebärde in den Operationsstuhl setzt. Inzwischen nickt
Philip, der ihn während seines Ganges durch das Zimmer kritisch
studiert hat, Dolly zu, und Dolly nickt Gloria zu.)
(Gloria.) Wenn wir recht verstanden haben, sind wir schuld, daß Herr
Dr. Valentine nicht mit Ihnen frühstückt; da wir ihn mithaben wollen.
Meine Mutter wird sich nur sehr freuen, wenn Sie auch mitkommen.
(McNaughtan, nachdem er sie einen Augenblick ernst betrachtet hat,
dankbar:) Ich danke Ihnen, ich werde mit Vergnügen erscheinen.